Das Kloster Ripoll ist eines der nationalen Heiligtümer Kataloniens. Im linken vorderen Teil der Kirche ist in einer Wandaussparung ein einfacher, aber monumentaler Sarkophag angebracht, Darunter die katalanische Flagge. Es ist der Sarkophag des Grafen Guifré el Pilós (gestorben 897).
Guifré el Pilós (sprich: gi'fre al Pi'los) – so der katalanische Name - war kein Romane, sondern germanischer, gotischer Abstammung und sein dementsprechender Name lautet: Wifred (Wilfried). Im Gegensatz zu seinem Lehnsherrn Karl der Kahle, dem westfränkischen König und Enkel Karls des Großen, muss er stark behaart gewesen sein. Daher sein Beiname „el Pilós“ (lateinisch: pilosus), „der Behaarte“. Wir dürfen vermuten, dass sich mit dem Beinamen auch ein Gegensatz zu dem fränkischen Oberherrn ausdrückt!
Seine Grafenkrone, ein einfaches mit Edelsteinen besetztes Metallband, ist in der Kirche des Schwesterklosters von Ripoll, in Sant Joan de las Abadesses, zu bewundern.
Guifré gilt der Legende nach, aber auch nach Meinung vieler Katalanen samt Geschichtsschreibern, als heroische Figur, der die katalanische Nation im Kampf gegen Sarazenen , Normannen und Franken begründete und befreite, von dem die nationale Dynastie, das Grafenhaus von Barcelona, ausging und von dessen Blut die katalanische Flagge herrührt.
Doch zu seiner Zeit gab es weder Katalonien noch eine katalanische „Nation“. Die Bezeichnung „Katalane“, „Katalonien“ ( catalanenses, Catalania) taucht erst 1114 auf, und zwar in einem lateinischen dichterischen Text aus Pisa, der die (zeitweilige) Eroberung Mallocas und Ibizas durch die Flotte des Grafen Ramon Berenguer III. (zusammen mit pisanischen Schiffen) besingt. Katalanisch, als eigene Sprache, tritt um 1200, in den Predigtexten der „ Homilies d´Organya“ in Erscheinung.
Überhaupt ist Katalonien schwer zu definieren. Es gab nie ein fest umrissenes, beständiges und einheitliches Territorium Katalonien, weder geographisch, noch historisch. Die heutige Comunitat Autonoma de Catalunya, die autonome Region Katalonien im spanischen Staat, umfasst nur einen Teil der (fiktiven) „Paisos Catalans“, der Gebiete, die zum ehemaligen „Principat de Catalunya“, dem katalanischen Teil des Staatenverbandes der Grafenkönige von Barcelona-Aragon, gehörten, dies teilweise auch nur zeitweilig oder über Nebenlinien.
Trotzdem gibt es unter den sich katalanisch verstehenden Bewohnern des ehemaligen Prinzipats Katalonien das Bewusstsein einer durch Sprache, Geschichte und Kultur begründeten Zusammengehörigkeit, ja das Gefühl, einer „Nation“ ( wenn auch ohne eigenständigen Staat) anzugehören.
Zur Zeit Wilfried des Haarigen war die iberische Halbinsel noch zum größten Teil in der Hand der Mauren. Daneben gab es am Rande verschiedene kleine christliche Königreiche, Nachfolgerstaaten des visigotischen Reiches, das vor dem Einfall der Araber (ab 711) Spanien umfasst hatte. Visigotische Adlige hatten sich in die weniger zugänglichen Randgebiete und Gebirge zurückgezogen, wo sie eigene Herrschaftsbereiche bildeten und den Kampf gegen die Araber eröffneten ( „Reconquista“). Wegen der Präsenz der Goten wird die Bezeichnung „Katalonien“ auch – nach einer Theorie – von „Gotalanien“, Land der Goten (und Alanen), hergeleitet. Hier lagen die Verhältnisse allerdings anders als in den anderen christlichen Restgebieten der iberischen Halbinsel.
Das hängt damit zusammen, dass die Franken nach Spanien übergriffen. Um das westliche Frankenreich, das spätere Frankreich, vor den Angriffen des Kalifats von Cordoba, zu schützen, hatten die Karolinger diesseits und jenseits der östlichen Pyrenäen eine Grenzzone, eine „Mark“, geschaffen, „Gothien“. Karl der Kahle hatte davon die „spanische Mark“, in und jenseits der Pyrenäen, abgetrennt. Sie endete in unserem Bereich bereits kurz hinter Barcelona, am Llobregat.
Für die verschiedenen Gebiete setzten die Frankenkönige „Grafen“ ein, Verwalter, die das Land kolonisieren und verteidigen sollten. Sie waren vom westfränkischen König abhängig, mussten ihm Steuern entrichten und konnten von ihm abgesetzt werden, was auch oft erfolgte. Ihr Amt war nicht erblich. Meist wurden sie aus dem westgotischen Adel erwählt. Die Franken bedurften des einheimischen westgotischen Adels, der aber immer wieder gegen die fränkische Zentralmacht rebellierte. Aus eben diesem Grund hatte Karl der Kahle die Spanische Mark aus Gesamtgothien herausgelöst, um die Macht der westgotischen Markgrafen zu beschneiden. Das ergab kleinere und voneinander unabhängige Grafschaften.
Die späteren katalanischen Kernlande umfassten die Grafschaften Girona, Empúries-Perelada-Rossello, Barcelona, Ausona (Vic), Urgell, Cerdanya-Conflent und Besalu-Vallespir. Girona wurde 785, nicht von, aber unter Karl dem Großen erobert. Der Schlüsselort seit römischen Zeiten war Barcelona, das 801 von Ludwig dem Frommen den Muslimen entrissen wurde, aber noch unter späteren Attacken zu leiden hatte.
Die Spursuche nach Wilfried, dem Behaarten, kann man auch in Barcelona aufnehmen. Am Ende der Avenida Comtal, im Barrio Gotico, findet man eine bemalte Kachel, die in katalanischer Sprache an den alten, im 19. Jahrhundert niedergerissenen Palast der Grafen von Barcelona erinnert, an den Grafen Guifré el Pilós, der hier ab Anfang des Jahres 870 gelebt hat und an die Ursprünge der katalanischen Nation…
Wilfred war ab 870 Markgraf von Urgell und Cerdanya, Nachfolger seines Vaters Sunifred; Sunifred I. war möglicherweise auch Graf von Barcelona, Urgell, Girona, Osona. Er wurde 849 von einem Nebenbuhler ermordet, der dann die Herrschaft über die Cerdanya usurpierte. Seine drei Söhne, unter ihnen Wilfred, waren noch Kinder.
Der Vater Sunifreds war Bello, Graf von Carcasonne und „Gothien“. Ich berichte das, weil es die begründete Hypothese gibt, dass Bello der gemeinsame „Urahn“ der wichtigsten alten Adelsgeschlechter von Katalonien ist, der Grafen von Barcelona und der Grafen von Empúries.
Wilfred wurde dann von Ludwig, dem Stammler nach 877 zum Grafen von Barcelona und Girona eingesetzt. Schließlich vereinigte er alle Kerngrafschaften Kataloniens, außer Empúries, unter seiner Herrschaft. Sein Reich soll „von Narbonne bis Spanien“ gereicht haben, d. h. bis zum Gebiet der Mauren.
Wilfried war mit einer Adligen namens Guinidilda verheiratet. Schon der Name verrät, dass auch sie eine waschechte Visigotin war, nicht wie die Sage will, eine flandrische Grafentochter. Das Paar hatte mindestens neun Kinder.
Es ist nicht verwunderlich, dass eine solche Figur wie Giufré von Sagen überwuchert wird. Grundzüge der Giufre-Legenden zeigt schon eine im 12. Jahrhundert in Ripoll enstandene Schrift: „Gesta Comitum Barcinonensium“, die Geschichte der Grafen von Barcelona. Demnach soll Wilfred seinen Vater durch fränkische Hand verloren haben. Ein Franke, dem der Vater bei einer Rebellion gegen den König das Schwert entwand, habe ihn seinerseits der Rebellion angeklagt. Vater und Sohn werden zum Königshof geführt. Unterwegs wird der sich Wehrende getötet. Der König schickt den Knaben an den Grafenhof nach Flandern, wo er ritterlich ausgebildet wird. Es wird auch von einer romantischen Liebesgeschichte zwischen Wilfred und der flandrischen Grafentochter berichtet. Die Gräfin nimmt ihm das Versprechen ab, die Tochter zu heiraten, wenn er sein Erbe angetreten hat. Guifredo – so heißt er hier - kehrt im Pilgergewand nach Barcelona zurück. Seine Mutter Ermessinde erkennt ihn an der ungewöhnlichen Körperbehaarung. Die Magnaten und Barone der Grafschaft rufen ihn zum neuen Grafen aus. Man beschließt, dass er den Grafen Salomo, der sich der Grafenwürde bemächtigt hatte und wohl hinter dem Mord am Vater steckte, mit eigenen Händen töten soll. Dies geschieht und Guifredo kann seine flandrische Geliebte heiraten.
Rauhe Sitten in den damaligen Zeiten! Die Sage hat sicher historische Anhaltspunkte. Es bleibt aber so manches in der frühmittelalterlichen Geschichte im legendenhaften Nebel.
Sicher auch Legende ist die bekannte Geschichte von der Entstehung der katalanischen Farben und Flagge (Senyera):
Wilfried sei mit seinem Heer dem von Normannen bedrängten König Karl dem Kahlen zu Hilfe geeilt. Dank seines Eingreifens seien die Normannen geschlagen worden, er habe aber eine tödliche Wunde empfangen. Der König besucht ihn auf dem Sterbebett, taucht vier Finger in seine Wunde, bestreicht damit das goldene, aber emblemlose Schild des Grafen und schenkt ihm und seinen Nachkommen so das Wappen. "Das wird Euer Wappen sein, Graf" sollen seine Worte gewesen sein.
Diese Geschichte, die in verschiedenen Fassungen überliefert wird, taucht erst im 16. Jahrhundert auf ( 1551: Pere Anton Beuter, Cronica general de Espana, Valencia). Tatsächlich hat sich die katalanische Flagge mit ihren Farben wohl aus dem späteren Wappen der Grafen von Barcelona und Könige von Aragon entwickelt (dort sind die Streifen noch vertikal).
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Sicher ist aber, dass sich die Grafschaften unter der Verwaltung Wilfreds, die er von Barcelona aus betrieb, konsolidierten und vereinheitlichten. Er verteidigte und erweiterte die Grenzen gegen die Sarazenen und setzte auf diplomatische Weise eine bisher nicht gekannte Unabhängigkeit gegenüber dem fränkischen König durch. Er war der letzte der katalanischen Grafen, der noch von diesem direkt ernannt wurde und erhielt wohl durch seine Vasallentreue die Erblichkeit des Grafenamtes zugebilligt. (Formell wurde die Abhängigkeit der katalanischen Grafen aber erst im Vertrag von Corbeil 1258 gelöst.).
Er ließ verlassene und verwüstete Gebiete mit Kolonisten besiedeln, veranlasste, dass Burgen und Türme zur Sicherung seiner Gebiete erbaut wurden und stützte sich auf die Herausbildung des Feudalsystems. So kehrte unter seiner Herrschaft nach wirren Zeiten eine gewisse Beständigkeit, Sicherheit und Ordnung ein. Fazit: Unter seiner Regierung wurde die Formierung des Prinzipats Katalonen begonnen und Herrschaftslinien eingeschlagen, die spätere Grafen fortführten.
Die innere Stabilität seiner Gebiete förderte er auch, indem er das religiöse und kirchliche Leben erneuerte und stärkte. 885 gründete er das Kloster Sant Joan de las Abadesses, dessen erste Äbtissin seine Tochter Emma wurde. 886 veranlasste der Graf die Neubelebung des Episcopats Ausona/Vic als eigenen Bischofsitz. 888 wurde im Beisein des Grafen und seiner Gemahlin die Klosterkirche von Ripoll feierlich geweiht. Das Kloster mit seiner Bibliothek und Schreibstube entwickelte sich unter dem Enkel Abt Oliba zur „geistigen Wiege“ Kataloniens. Hier setzte er seinen Sohn Rodulfo als ersten Abt ein. Die Klöster wurden nicht nur Zentren der geistlichen und geistigen Überlieferung und Erneuerung, sondern auch der Kultivierung von Landwirtschaft und Handwerk. Auch die Befreiung des Montserrat und die Neubelebung des Kultes und mönchischen Lebens auf diesem Zentralheiligtum der Katalanen wird Wilfried zugeschrieben.
All dies ist mit Sagen verbunden, die sich um seine Person ranken:
So soll Wilfried nach einer gewonnenen Schlacht gegen die Sarazenen beim späteren Ort Ripoll einen Traum gehabt haben, in dem ihm Karl der Große erschien. Dieser trug ihm die Verehrung des vor den Christenfeinden versteckten Marienbildes und die Errichtung des Klosters auf.
Es geht die Sage, dass er in der Nacht von Allerseelen aus seiner Gruft hervorkomme und auf einem weißen Pferd - wie der erste "apokalyptische Reiter" (Offenbarung des Joh., Kap.6) - seine Lande durchreite und prüfe, ob sie noch einig und frei von Christenfeinden seien. Wenn seinen Landen Gefahr drohe, rufe er seine alten Kampfgefährten aus den Gräbern zum neuen Streit.
Das ist also die katalanische Fassung der Kyffhäuser-Sage, die die Wiederkehr des langbärtigen Friedenkaisers Barbarossa beschwört.
Das Leben des Grafen Wilfried endete im Kampf mit den Sarazenen, die 897 wieder seine Gebiete bedrohten. Durch einen Lanzenstoß des muslimischen Anführers Lubb ibn Muhammad al-Qasi aus Lleida erhielt er im Valle de Ora/Navès eine tödliche Wunde. Die Einwohner dort haben ein Denkmal bei einer mittelalterlichen Brücke über den Fluss Ora errichtet, das auf einem Felsblock eine gegossene Hand zeigt, die die vier katalanischen Streifen eingraviert.
Nach dem Tode Wilfrieds werden die Grafschaften unter seinen Söhnen Guifré, Sunyer, Miró und Sunifred aufgeteilt, was die vom Vater geschaffene Verbundenheit des Herrschaftsgebietes wieder in Frage stellte.
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