Vilasacra - Hauptstadt der Welt oder der Traum vom katalanisch-okzitanischen Großreich

Wer in der Welt kennt schon Vilasacra?

Nun gut, wer von Figueres nach Roses fährt, kommt an Vilasacra vorbei. Früher floss – oder besser stagnierte in den Zeiten des Ferien- oder Hauptverkehrs – der Verkehr durch den Ort. Aber seit man die autobahnähnliche Schnellstrasse nach Roses gebaut hat, erinnert den Durchreisenden höchstens an zwei Kreiseln das Abzweigungsschild an dieses empordanesische Dorf.

 

Fährt man dann hinein, dann trifft man auf einen absolut ruhigen und - wie es scheint – nahezu menschenleeren Ort. Man hat den Eindruck, er besteht nur aus einer lang gezogenen Strasse. Je nachdem, von wo man einfährt, trifft man erst auf ein großes Möbelhaus und andere Firmenniederlassungen, nicht sehr frequentiert, dann auf Reihen von modernen Häuschen – ausgelagerte Wohnsiedlung, denkt man, die Leute arbeiten anderswo. In der Mitte des Ortes trifft man auf meist ältere baufällige Bruchsteinhäuser, aufgegebene Wirtschaften und geschlossene Lädchen. Kommt man von der anderen Seite, fällt einem ein verwahrlostes „Waschhaus“ auf, dann rechts und links zwei schöne Masien, eines war ein Restaurant, jetzt aufgegeben, auch das andere Gehöft verlassen…

 

Im Zentrum des Ortes öffnet sich ein freier Platz, das heißt ganz frei ist er nicht, weil er ziemlich mit Autos zugeparkt wird. Wo die Besitzer verweilen, weiß man nicht; auf der noch verfügbaren Fläche humpeln einige alte Männer herum oder dösen auf Stufen in der Sonne. „Plaça major“ wagt man nicht zu sagen, heißt auch „Plaça de l´Abadia“. Aha, denkt man, hier muss es ein Kloster gegeben haben und vielleicht daher: „Vila-sacra“ – „heiliges Dorf“.

 

Der Platz wird im Hintergrund von einer massigen, augenscheinlich romanischen Kirche mit Glockenturm und aufgesetzten Verteidigungsmauern begrenzt, die Gemeindekirche Sant Esteve. Links daneben ein wuchtiger runder Turm und ein Gebäude, teils mittelalterlich, teils (ansprechend) modern renoviert, das „Castell/Palau de l´Abat“ – das befestigte Schloss des Abtes. Heute befindet sich das Ajuntament, das Rathaus, darin.

 

Bilder von Vilasacra ( durch Anklicken werden die Bilder vergrößert

 

Dort erfahren wir von den nächsten „großen“ Ereignissen, die das Dorf bewegen: kommenden Sonntag ist die „Festa Major“. Programm: Messe, Sardanes natürlich, der katalanische Rund- und Nationaltanz, Konzert und zum Abschluss „Großer Ball“.

 

Im März folgt die „Fira de la Ceba i del Calçot“, der Markt der Zwiebeln und der „Calçots“. Da waren wir schon einmal, erinnern wir uns. Dann füllt sich das Dorf mit Besuchern und Einheimischen, die die katalanische Spezialität der Calçots probieren oder erwerben wollen. Das ist ein Zwiebelgemüse, dessen Stengel nahezu schwarz auf Holzkohlen gegrillt werden. Die schwarz geräucherten Schalen macht man ab und lässt sich das Innere munden. Oft wird Schinken oder Kotelett dazu gereicht. Beim Essen bekommt man ziemlich schwarze Hände, aber das stört Katalanen nicht. Auch uns hat es gut geschmeckt, aber das Gericht hatte später starke Wirkungen auf den Verdauungstrakt.

 

Außerdem informiert man uns, dass es im Rathaus eine ständige Ausstellung „Càtars i Trobadors“ gibt. Wieder erinnern wir uns: Diese Ausstellung hatten wir schon gesehen – war es in Castelló d´Empúries? – „ Càtars i Trobadors – Occitània i Catalunya: renaixença i futur“ (Katharer und Troubadoure – Okzitanien und Katalonien: Wiedergeburt und Zukunft), wobei wir auch den vom Geschichtsmuseums von Katalonien herausgegebenen dickleibigen Katalog erworben haben. Die Ausstellung ist Produkt des „Eurokongresses 2000 dels espais occitans i Catalans“, ein „Kongress der okzitanischen und katalanischen Räume“, der 2001 in Narbonne eröffnet wurde. Darin geht es um die geschichtlich-kulturelle Verbundenheit von Okzitanien, also dem Süden Frankreichs, und Katalonien.

 

Der Uneingeweihte wird fragen, warum diese Ausstellung in diesem Dorf, wo sich anscheinend „Fuchs und Hase gute Nacht sagen“? Geduld, der Schlüssel kommt!

 

Dann schlendern wir zur Kirche hinüber. Die Tür steht offen und wir denken: Ah, einmal eine alte Dorfkirche, die offen ist. Getäuscht! Den Weg ins dunkle Innere versperrt uns eine Glastür im Vorraum. Da sehen wir rechts einen Kasten. Für einen Euro verspricht er Beleuchtung des Kircheninneren und Informationen über Kirche und Abtspalast. Einen Euro rein und schon erstrahlt der Innenraum im hellen Glanz!

 

Ich lausche einem langen Vortrag über Architektur der Kirche und Geschichte des Dorfes. Laut schallt er über den stillen Vorplatz. Während meine Frau sich draußen mit dem Hund in der Sonne bewegt und sich dann wartend niederlässt, erfahre ich, was es mit den Baulichkeiten auf sich hat. Der Name des Ortes wird auf eine Person zurückgeführt: „Saccari“, also „Weiler des Saccarius“. Nix mit „Heiliges Dorf“? Doch! 1240 erwarb nämlich der Abt Ponç vom Kloster Sant Pere de Rodes Kastell, Kirche und Feudalrechte über den Ort. Da Vilasacra über fruchtbares Umland verfügt, muss sich der Erwerb gelohnt haben. Sicher haben schon die Mönche ihre Calçots als leckere Fastenspeise von dort bezogen! Ende des 18. Jahrhunderts verließen die Mönche ihr Stammkloster, wegen der einsamen Lage und unsicheren Zeiten. Räuberbanden und französische Soldaten plünderten das alte Kloster aus. Was lag näher, als sich in ihren befestigten, verkehrsmäßig günstig und in der bevölkerten Ebene des Empordà gelegenen Besitz in Vilasacra zu flüchten?! Aber offenbar war den 10 noch verbliebenen Mönchen auch dort das alte Gemäuer zu unwirtlich. 

 

Kapelle des früheren Benediktiner-Klosters in Figueres
Kapelle des früheren Benediktiner-Klosters in Figueres

1810 verließen die Brüder die Klosterburg von Vilasacra und zogen schließlich in ein neu erbautes „modernes“ Kloster in der nahe gelegenen Provinzhauptstadt Figueres ein (da wo sich heute das (Alten-) Asyl Vilallonga befindet – was vom Kloster geblieben ist, ist die klassizistische Kapelle). Aber auch dort war ihnen kein langes Bleiben beschert. 1835 wurde das Kloster auf Grund der vom Minister Mendizábal erlassenen Gesetze aufgelöst und der Klosterbesitz, auch der in Vilasacra, versteigert. Die Mönche gingen „in Pension“.

 

Vila-sacra – ein Dorf also nicht ganz ohne, aber nicht gerade mit herausragender historischer Bedeutung! Oder?

 

Ehe wir auf den „Platz des Abts“ schritten, fiel uns ein sonderbares rundes Schild über einem verlassenen Wirtshaus auf: zwei Wappen, das katalanische und das toulousanisch-okzitanische, umgeben von den Worten: LA CAPITAL DEL MÓN – die Hauptstadt der Welt! Und auch im Rathaus sind wir auf den Slogan gestoßen: VILA-SACRA – CAPITAL DEL MÓN. Nanu, was ist denn das? Dieses verschlafene Nest soll die „Hauptstadt der Welt“ sein. Na klar, wenn einer in einem Ort aufgewachsen ist und dort lebt, dann bildet dieser für ihn den „Nabel der Welt“, überall auf der Erde! Aber angesichts dieses Dorfes ist es doch wohl eine maßlose Übertreibung, es als „Kapitale der Welt“ zu bezeichnen!? Katalanischer, empordanesicher. lokaler Größenwahn?

 

Die Aufklärung findet man auf dem Abtsplatz, an einer ziemlich abgerissenen Informationssäule. Da steht auf katalanisch (sollen es die übrigen Bewohner der Welt nicht wissen?):

 

CARLES FAGES DE CLIMENT

La capital del Món

„Der herausragende empordanesische und universale Dichter Carles Fages de Climent sagt uns, dass, wenn nicht unser König Pere I. in der Schlacht von Muret besiegt worden wäre, Vilasacra dazu gekommen wäre, Hauptstadt der Welt zu sein. Es ist ein begeisterungswürdiges Buch, das anlässlich einer vom Autor einberufenen Konferenz geschrieben wurde. Es ist das überdauernde Werk eines Poeten, geschrieben mit feiner Bildung und scharfer Ironie“.

 

Und wieder erinnere ich mich. Ich habe das Büchlein einmal erworben. Es enthält einen Vortrag, den Carles Fages de Climent im Februar 1956 (man beachte die Zeit!) im Casino Menestral (wunderschönes, jetzt renoviertes Gebäude!) zu Figueres gehalten hat. Auf Katalanisch (!) vor einem auserlesenen Kreis von Honoratioren und Intellektuellen aus dem Empordá und Figueres (die er mit : „Dames i Cavallers, amics“ – Meine Damen und „Ritter“(=Gentlemen), Freunde!) anredet.

 

Das geistreiche Büchlein ist aufschlussreich und wirft auch noch heute ein Licht auf Bestrebungen, die nicht wenige Katalanen beseelen. So lohnt es sich, dass ich es für Deutsche referiere.

 

Doch zunächst einmal: wer war Carles Fages de Climent?

 

Ich habe mich auf Spurensuche gemacht. Sie beginnt in Figueres, an seinem Geburtshaus. Es liegt an der Ecke des „Carrer Enginyers“ und des „Carrer Monturiol“, die von der „Rambla“ fortführt. Es ist ein großes und prächtiges neoklassizistisches Haus. Aus der Tafel am Eingang in der „Strasse der Ingenieure“ erfahren wir, dass es von dem Figuerencer Architekten und Stadtbaumeister Josep Roca i Bros 1852 gebaut wurde und vorbildlich für den weiteren Ausbau des Viertels war, in dem wohlhabende Bürger ihre repräsentativen Residenzen errichten ließen. Weiterhin lesen wir, dass die Vorfahren des Poeten eine wichtige Rolle als Vertreter des politischen Konservatismus und bei der Erneuerung der Landwirtschaft Kataloniens in der zweiten Hälfte des 19.Jahrhunderts gespielt haben. 

 

In der Seite zur „Strasse Monturiol“ finden wir eine weitere Tafel, die die Stadt ihrem „Fill dilecte“, einem ihrer „Lieblingssöhne“, gesetzt hat. Da lesen wir:

 

„Al carrer del Monturiol            In der Strasse Monturiol

l´inventor del submarí,            haben der Erfinder des U-Bootes,

io i en Salvador Dalí                ich und Salvador Dalí

- tres genis – hem vist el sol".  -drei Genies – das Licht der Welt                                                                            erblickt.

Carles Fages de Climent 1902 – 1968

 

Das ist eine nicht gerade bescheidene Selbsteinschätzung, wobei die Ironie nicht zu verkennen ist!

 

Nicht weit entfernt von dieser Tafel – am Anfang der Rambla – finden sich die Denkmäler zweier dieser „Genies“, das alte von Narcís Monturiol, dem Erfinder und Konstrukteur der ersten U-Boote, und das moderne von Dalí (der sich freilich sein größtes Denkmal in Figueres mit seinem Theater-Museum selbst gesetzt hat). Carles Fages de Climent hat keine Statue bekommen, man hat aber verschiedene Straßen nach ihm und seinen Werken benannt, auch die Stadtbibliothek trägt seinen Namen.

 

Aus den Informationen, die wir bisher erhalten haben, können wir schon einiges über den Dichter erschließen. Er ist im Milieu einer konservativen wohlhabenden Familie des Großbürgertums in Figueres aufgewachsen, die ihren Wohlstand aus Landbesitz und Agrikultur bezog – tatsächlich besaß die Familie großen Landbesitz in Castelló d´Empúries. Nicht zuletzt daraus resultiert eine Verbundenheit mit der Region, dem Empordà, dem Hinterland der Costa Brava. Carles Fages de Climent wird als Dichter des Empordà, seiner Traditionen, seiner Menschen, seiner Landschaft bezeichnet. Fages de Climent hat seinen Vorfahren, insbesondere seinem Urgroßvater und Großvater, ein (durchaus auch kritisches) Denkmal in dem Prosawerk „Climent“ (1933) gesetzt.

 

Seine frühe Kindheit und einen Großteil seines späteren Lebens verbrachte er in den den Häusern  seiner  Familie   in  Castelló

d´Empuries, eines in der heutigen  Strasse    „Carrrer Sabater

d´Ordis“ (genannt nach einem Werk von ihm) und ein anderes bei der „Porta Gallarda“ (dem „weiten Tor“), wo die Familie ein Restaurant besaß. Dieses Restaurant wird heute von einem Neffen geführt, der den Nachlass des Dichters betreut und sich um Aufarbeitung und Herausgabe seiner Werke verdient macht (Website: fagesdecliment.com). Im Bürgerkrieg enteignete man übrigens die Besitzungen der Familie Climent.

 

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Carles drückte gemeinsam mit Salvador Dalí die Schulbank im „Institut Ramon Muntaner“, der höheren Schule in Figueres. Mit Dalí verband ihn eine lebenslange Freundschaft und Zusammenarbeit. Seine Studien, die er in Barcelona begann, schloss Carles Fages de Climent mit dem Doktorat in alten Sprachen in Madrid ab (mit einer Arbeit über Homer). So ist es nicht verwunderlich, dass der Dichter immer wieder Bezug auf die Antike nimmt, deren Spuren im Empordà nicht zu übersehen sind.

 

Bei seinen Aufenthalten in Barcelona und Madrid trat er in Kontakt mit einer Reihe von katalanischen und spanischen Schriftstellern und Dichtern. Als junger Mann und später tat sich Carles Fages de Climent mit Gedichten hervor, mit Lesungen in seiner Heimatstadt und bei verschiedenen „Jocs Florals“ („Blütenspiele“), den spezifisch katalanischen Dichterauftritten in der Nachfolge der Troubadourwettbewerbe, wobei er auch Preise erhielt.

 

Zweiundzwanzigjährig veröffentlichte er sein erstes episches Werk (in Versform): „Les bruixes de Llers“. Darin nimmt er die Erzählungen über die legendären Hexen von Llers auf, einem Dorf unweit von Figueres, die damit verbundene Geschichte vom auf der Burg von Llers lebenden Grafen Estruc, der auf Grund von Hexenzauber zum Vampir wurde, berichtet aber auch von anderen Frauen des Empordà, denen man nachsagte, Hexen zu sein. Der zwanzigjährige Dalí lieferte die Zeichnungen zu dem Werk.

 

Ich nenne hier nicht alle Werke aus seiner umfangreichen schriftstellerischen, poetischen und dramatischen Tätigkeit (er schrieb auch Dramen). Als Journalist verfasste er Beiträge für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften. Teile seines Werkes sind noch gar nicht veröffentlicht.

 

Nennen möchte ich die „Balada del Sabater d´Ordis“ (1954). In diesem Epos nimmt der Dichter die Gestalt eines Schusters aus dem Dorf Ordis im Alt Empordà auf, der im Vorwort des einflussreichen Publizisten Eugenio d´Ors als eine Art von empordanesischem „Don Quixote“ bezeichnet wurde. Der Schuster tritt nach der Ermordung seines Sohnes aus den gewohnten Bahnen, gibt seine erlernte Profession auf, dirigiert den Tramuntanawind mit einer Rohrflöte und fristet sein Leben durch Bettelei. Nachdem ihn seine Frau verlassen hat, wandert er durch das Empordà, begleitet vom Spott der Menschen. Am Ende seines Lebens akzeptiert er sein Schicksal, kehrt in das Heimatdorf zurück und stirbt - menschlich gereift. Das Werk ist Dali gewidmet, der schrieb dazu ein Nachwort und hat es illustriert. Carles Fages de Climent fand in der „Verrücktheit“ des Schuster Züge von Dalí und sich selber.

 

Die Verbundenheit mit Landschaften des Empordà, die der Dichter mit Dalí teilte, fand auch Ausdruck in dem Poem „Somni de Cap de Creus“, dem „Traum vom Cap Creus“ (2003 postum veröffentlicht). Darin schildert Fages de Climent die geographischen, geologischen, landschaftlichen und geschichtlichen Besonderheiten dieses bizarren, im äußersten Nordwesten Spaniens gelegenen, Vorsprungs in das Mittelmeer. Dabei lässt der Autor auch den Übergang vom heidnischen Griechentum zum Christentum, das auf den Ruinen antiker Heiligtümer Kirchen errichtete, wach werden. Angeblich wurde das Werk von Dalí inspiriert, in dessen Gemälden ja bekanntlich die Felsformationen des Cap de Creus immer wieder auftauchen. In dem Werk ist auch das „Gebet an den Christ der Tramunana“ enthalten, dieses für das Empordà charakteristischen Nordwindes, der Felder und Ernte bedroht, und der in der Anrufung gemäßigt werden soll. Anlässlich des Todes seines Freundes 1968 schuf Dalí ein Bild des „Christ de la Tramuntana“, das im Eingangsbereich des Dali-Museum in Figueres zu sehen ist.

 

Seine Verflechtung in die Gesellschaft von Figueres und dem Empordá zeigt Fages de Climent in einer großen Sammlung von „Epigrammen“, mit denen er so ziemlich alle Bekannte des öffentlichen Lebens mit Sprüchen, kritisch, ironisch oder zustimmend bedenkt – oft unter dem Pseudonym „ Lo gaiter de la Muga“, der „Dudelsackfpfeifer von der Muga“, dem empordanesischen Fluss, der bei Castelló d´Empúries in das Mittelmeer mündet.

 

Die erzählerischen und dichterischen Fähigkeiten von Fages de Climent sind brillant. Im Empordá war und ist er beliebt und bekannt. Aber über Katalonien hinaus ist sein Ruf kaum gedrungen. Dazu sind seine Bezüge zur Region zu eng. Wer versteht schon außerhalb des Empordà seine Anspielungen an Landschaft, Geschichte und Menschen? Da würden auch Übersetzungen nicht viel helfen. So ist und bleibt er in lokaler, regionaler Schriftsteller, dessen Lektüre freilich für jeden gewinnreich ist, der das Empordà kennt und liebt. Es ist eben nicht so wie bei Dalí, dem zweiten „Genie“ aus der Monturiolgasse, dem dank der Universaltät der Bildersprache (und seiner internationalen Beziehungen) der Sprung aus der Provinzialität gelungen ist. Bei Climent de Fages bleibt die Schranke der katalanischen Sprache für das übrige Spanien und für Ausländer, wobei noch hinzukommt, dass seine dichterische Sprache nicht leicht zugänglich ist. Da geht es ihm wie anderen, auch bedeutenderen katalanischen Dichtern, etwa Maragall.

 

Doch nun zu seinem Vortrag „Vilasacra – Capital de Món"

 

Casino Menestral - Ort des Vortrags von Carles Fages de Climent

Fages de Climent spekuliert, was wäre, wenn König Pere I, der „Katholische“, nicht die Schlacht von Muret verloren hätte.

 

Mittelalterliche Schlacht (Grandes Chroniques de France, 14. Jh.)
Mittelalterliche Schlacht (Grandes Chroniques de France, 14. Jh.)

Diese Schlacht fand 1213 bei Muret (Haute Garonne) statt. Kontrahenten waren auf der einen Seite das französisch-internationale Kreuzfahrerheer unter Führung von Simon von Montfort im Kreuzzug gegen die Katharer. Auf der anderen Seite stand die Koalition des Grafen von Toulouse und der Adligen Okzitaniens unter Führung König Peres I. von Aragonien mit aragonischen und katalanischen Truppen. Die Schlacht endete mit dem Tod des Königs und dem Sieg der Kreuzfahrer.

 

Die Schlacht war tatsächlich ein entscheidendes Ereignis, das die Entwicklung des Südens des heutigen Frankreichs und Aragon-Kataloniens, wenn nicht ganz Europas, tiefgreifend beeinflusste.

 

Was war geschehen?

 

Die Fürsten des Languedoc und der Provence waren nur noch nominell dem französischen König untertan und faktisch unabhängig oder in andere Lehnsverhältnisse, hauptsächlich zu den Grafenkönigen von Aragon-Barcelona, eingebunden. Der Süden Frankreichs hatte eine eigene Sprache, Kultur und Lebensart ausgebildet, die sehr verwandt mit der der katalanischen Länder war.

 

Auch auf dem Gebiete der Religion war mit dem Auftreten und der Ausbreitung der Katharer oder Albigenser eine Eigenentwicklung eingetreten. Diese Richtung des Christentums stellte die Grundlagen der katholischen Kirche in Frage. Das rief den Papst auf den Plan, der zum Kreuzzug gegen die Häretiker und die sie unterstützenden Adligen aufrief. Dies wiederum kam dem König von Frankreich gelegen, der den Süden in seinen Machtbereich eingliedern wollte. Der Kreuzzug führte zu grausamen Massakern und der Entsetzung vieler okzitanischer Adligen, deren Herrschaften sich Simon von Montfort bemächtigte.

 

Von dieser Entwicklung sah sich auch König Pere betroffen und bedroht, der die Lehensrechte über einige Gebiete Okzitaniens innehatte und mit wichtigen Familien Okzitaniens verwandtschaftlich verbunden war. Angesichts der Bedrohung hatten sich der Graf von Toulouse und die Adligen Okzitaniens dem aragonesischen König unterstellt. König Pere versuchte zunächst zu vermitteln – Simon von Montfort war in Carcassonne sein Lehensträger geworden und ihm war der kleine Sohn Peres, der spätere König Jaume II., als Heiratkandidat für die Tochter Simons übergeben worden. Simon setzte aber seine Eroberungs- und Vernichtungspolitik fort und so sah sich der aragonesische König zum Eingreifen herausgefordert. Dies obwohl er treuer Katholik war, sich vom Papst hatte krönen lassen und sich ihm unterstellt hatte.

 

Mit einem Aufgebot kampferprobter aragonesischer und katalanischer Ritter und Fußsoldaten ("Almogavers") überquerte er, der 1212 entscheidend zum Sieg über die Mauren bei Úbeda oder Las Navas de Tolosa (Jaén) beigetragen hatte, die Pyrenäen und vereinigte sich mit den okzitanischen Truppen.

 

Vor dem strategisch wichtigen Ort Muret, der von einem Trupp Kreuzfahrer gehalten wurde, kam es zur Schlacht. Simon von Montfort war zur Hilfe der Besatzung des belagerten Muret herbeigeeilt und es war ihm gelungen, mit seinen Rittern in die Stadt zu gelangen. Die okzitanisch-aragonesische Koalition war den Truppen Simons zahlenmäßig weit überlegen (ca. 2000 gegen 800 Ritter). Alles sah nach Sieg der Koalition aus. Der sieggewohnte und ritterlich gesinnte König entschloss sich - ohne auf den Rat des Grafen von Toulouse und Vertrauter zu hören – gegen eine Belagerung für die Begegnung auf offenem Felde; auch eine Befestigung des Lagers schloss er aus. Verhandlungsangebote wies er zurück. Das Eintreffen weiterer Truppen wollte er nicht abwarten. Die Nacht vor der Schlacht verbrachte er mit einem amourösen Abenteuer, sodass er am Morgen in der Messe bei der Verlesung des Evangeliums nicht in der Lage war zu stehen.

 

Simon seinerseits setzte auf Ausfall und Überraschungsangriff, was er entschlossen durchführte. Er täuschte Abzug vor und nahm dann die erste Reihe der verteilt aufgestellten Gegner – ein taktischer Fehler von diesen - in die Zange. Dann wandte er sich der Abteilung des Königs zu und zwang diese zum Nahkampf. König Pere hatte Rüstung und Abzeichen mit einem gewöhnlichen Ritter getauscht und befand sich mitten unter der Truppe (was unüblich war). Simon hatte wohl den Auftrag gegeben, sich das Königs zu bemächtigen oder ihn zu töten. Zwei französische Ritter vollführten dieses Werk, nachdem sie zuerst den vermeintlichen, dann aber den „echten“ König töteten, obwohl dieser sich zu erkennen gegeben hatte. (Dies war gegen jede ritterliche Etikette). Nachdem der König gefallen war, wandte sich das Koalitionsheer zur Flucht, auch der Graf von Toulouse mit seinem Heer, das nicht in den Kampf eingegriffen hatte. Nach zeitgenössischen Angaben hatten die Truppen des Königs und des Grafen gegen 10 000 Tote zu beklagen, Simon nur 8!

 

Durch die taktischen Fehler der Führung und das leichtsinnige Verhalten des Königs war der Sieg und eine geschichtliche Chance vertan worden. Der Traum von einem geeinten, eigenständigen Okzitanien unter Führung und in Verbundenheit mit der Krone Aragons wurde abrupt beendet. In der Folge geriet der Süden Frankreichs unter die Herrschaft und den Zentralismus der Könige Frankreichs. Die Grafenkönige Aragoniens und Kataloniens verzichteten auf die Expansionspolitik jenseits der Pyrenäen und wandten sich dem Mittelmeerraum zu, wo sie ihren Einfluss weit ausdehnten.

 

Hier setzt Carles Fages de Climent ein.

 

Was wäre gewesen, wenn König Pere überlegt und taktisch klug gehandelt hätte, gesiegt und am Leben geblieben wäre?

 

Dann hätte nach Fages de Climent eine große Siegesfeier stattgefunden, erst in Narbonne für die internationalen Größen und dann (natürlich!) in Castelló d´Empuries für den aragonesischen und katalanischen Adel, der sich gern dem „Helden“ von Úbeda und Muret unterworfen hätte.

 

Der König hätte auch eine neue Hauptstadt für die Föderation Aragon-Katalonien und Okzitanien suchen müssen. Barcelona, Girona wären nicht mehr in Frage gekommen, aber auch nicht Elna oder eine andere Stadt Okzitaniens. Die Hauptstadt hätte zwischen den Gebieten jenseits und den Hauptgebieten der Grafenkönige diesseits der Pyrenäen liegen müssen. Bei kluger Überlegung hätte der König nur das Empordà wählen können! Und hier wäre nur ein quasi „neutraler“ Ort in Frage gekommen, was bei einem so „katholischen“ König auch ein Ort in geistlicher Hand hätte sein können. Und da wäre die Wahl auf VILASACRA gefallen. Denn es ist immer klug, sich mit der kirchlichen Hierarchie zu arrangieren und der Abt von Sant Pere de Rodes hätte angesichts der Umstände sicher gern einen Pakt mit dem König abgeschlossen! So wäre also Vilasacra die Hauptstadt, die Kapitale, eines großen föderativen Reiches von europäischer Geltung geworden. Und im Laufe der Zeit hätte der Ort sich zur Weltstadt, zur „Capital del Món“, entwickelt.

 

Fages de Climent beschreibt dann die Topographie dieser Metropole, wobei er die Linien in die Gegenwart des Vortrags zieht Eine der großen Verkehrsadern wäre die Straße von Besalu nach Roses. Diese – heute, d.h. zur Zeit des Vortragenden, schmal - würde mehrspurig ausgebaut werden, mit Pisten für Automobile, Flugzeuge, aber auch mit nicht asphaltierten Streifen für Fußgänger, Hunde und Kinderwagen. Die andere Verkehrsader – für Schiffe - wäre die Muga. Dank technischer Erfindungen würde man sie und ihre Nebenflüsse mit Wasser aus der Gegend von Barcelona auffüllen, sodass sie bis hoch hinauf ins Empordá schiffbar wäre, denn: „wenn wir heute unser Wasser frei nach Barcelona exportieren, gibt es kein Zweifel, dass die barcelonesischen Flüsse uns unter empordanesischer Hegemonie tributpflichtig wären“.

 

Der internationale Hafen wäre Roses, wo die Flotten der Russen, Engländer, Japaner und der Vereinigten Staaten gemeinsam ankern, präsidiert von der silbernen Barke des Grafen von Empúries.

 

Auf den Bergen hätte man einen gigantischen Tramuntana-Schutz installiert, sodass dieser so oft heftige Wind nur noch als leichte Brise hinunterweht.

 

Die umliegenden Städte und Dörfer würden in die Metropole integriert sein, aber „als Viertel“ Namen und Charakteristiken behalten und spezifische Aufgaben haben.

 

In Vilajuïga befände sich der Sitz der jüdischen Kommunität und würden Patriarchen und Rabbiner residieren. Natürlich wäre ihnen – wie in biblischen Zeiten – die Mehrehe erlaubt. Sie hätten die „ehrenhafte“ Aufgabe der Kreditvergabe und des Vorsitzes in Sparkassen und in der Weltbank. Die antike Ruinenstadt Empúries wäre wieder belebt. Täglich würden dort athletische Wettkämpfe ausgetragen, griechische Komödien aufgeführt und umher wandelnde Philosophen würden sich mit Touristen über deren existentielle Ängste unterreden. Die Einwohner müssten – wenigstens sonntags - Griechisch reden, worin sie von „Professor Galobardes“ (wohl ein Griechisch-Lehrer in Figueres) unterwiesen würden. Auch sollte Empúries wieder der große Handelsmarkt sein - wie in der Antike. Figueres mit seiner „in der Welt einzigartigen“ Rambla –„wo wir uns alle ein wenig als Eigentümer fühlen“- wäre natürlich die „City“. Ständig würden hier wechselnde Sardanes-Kapellen zu „unserem föderalen und kollektiven Tanz“ aufspielen. Unsichtbar würde der alte Schuster von Ordis - als „Hohepriester Äols“ - Musik und Tänze mit seiner Flöte dirigieren. Dank der Zeichnung von Dalí mit Versen (ergänze: von Fages de Climent) hätte er metaphysische Schranken durchbrechen können. Im ehemaligen Augustiner-Kloster Vilabertran – „Sitz des heimischen Protestantismus“ - wäre die Theologische Universität, an der alle Häresien - speziell die albigensische - frei gelehrt werden könnten, als Beweis für den kritischen, liberalen und toleranten Geist des empordanesischen Föderalismus. Die Landwirtschaftliche Fakultät ist in Fortianell angesiedelt, wohin die Landwirte aus aller Welt strömen, um nach dem Vorbild von „Sant Sever“ (legendärer Bischof von Barcelona und Märtyrer um 300 n. Chr.) zu lernen, wie man morgens Bohnen anbaut und abends erntet, was sie aber mehr „weise als reich“ machen sollte. In Vilasacra bliebe natürlich der Lehrstuhl für experimentellen Zwiebelanbau. Es sei ja bekannt, dass dort die besten Zwiebeln der Welt gedeihen, die schon im alten Ägypten als heilig galten, weswegen das Dorf wohl auch seinen heiligen Namen bekommen habe.

 

Schon eine simple Aufzählung der Umgebung, mit Bergen wie die Muntanya de Roda mit der Gralsburg Sant Salvador de Verdera oder dem Felsenkastell Quermanço als Sitz des Zauberers Klingsors würde die Überlegenheit von Vilasacra als Hauptstadt gegenüber Barcelona und dessen Attraktionen zeigen. Natürlich würden jetzt die Touristen aus aller Welt mit modernen Drahtseilbahnen zu den Bergen und Burgen hinauf befördert werden. Morgens könnten sie dank modernen Luftkissenzügen ihr Bad in Buchten wie Tamariu nehmen. Für komfortable Übernachtungen hätten die Mönche von Sant Pere de Rodes mit einer Hotelkette auf den Bergen gesorgt.

 

So zeichnet Fages de Climent eine humorvolle Topographie seiner Metropole, mit vielen Anspielungen, auch Seitenhieben, die seinen Zuhörern natürlich verständlich waren; sie werden immer wieder geschmunzelt haben. Durch die Ironie der Geschichte ist tatsächliches manches wahr geworden oder wird noch werden: so die breite mehrspurige Straße nach Roses, auf der in Saisonzeiten Massen an Touristen hereinrauschen. Vor Roses ankern tatsächlich internationale Kreuzfahrtschiffe und das Hotel auf Sant Pere de Rodes ist in Planung.

 

In einem dritten Teil seiner „bescheidenen und gründlichen Studie“ analysiert der Autor, welche mögliche Rolle die gegenwärtigen Empordanesen – „viele hier anwesend“ – „in der heimischen Leitung und Entwicklung der Wissenschaften, der Künste und der Politik spielen würden.

 

Fages de Climent wäre nicht Katalane, wenn er nicht vorweg übers Geld reden würde. In seiner Utopie erfüllt sich der Wunschtraum, dass die Katalanen nicht wie bisher als Auswanderer ihr Geld in alle Welt tragen. Nein, jetzt bringt alle Welt, auch die Schweitzer und Amerikaner, ihre Ersparnisse ins Empordà! Die hiesige „Drachme“ oder der „Florint“ steigen ins Unermessliche. Die Empordanesen müssen nur noch Mittwochs ein wenig arbeiten, um Appetit für ihre „pantagruelschen“ Mahlzeiten zu bekommen, die sie am Sonntag in Restaurants wie dem „Can Duran“ dem „Can Roca“ (auch heute noch renommierte Lokale) oder dem neu eingerichteten „Hotel Vilasacra“ einnehmen – wo sie dank des Wechselkurses zu lächerlichen Preisen speisen. Dafür müssen sich Schweizer oder Amerikaner ruinieren, wenn sie eine Paella auf der Rambla zu sich nehmen wollen. (Ein bisschen ist diese Vision des Autors doch eingetreten, oder?)

 

Über die politische Verfassung dieser utopischen Metropole sagt Fages de Climent wenig – man darf nicht vergessen, es ist Franco-Zeit! Sein Hauptinteresse – nicht verwunderlich – liegt bei Bildung, Wissenschaft und Kunst, obwohl auch Gesundheit/Medizin, Landwirtschaft und Militär berücksichtigt werden.

 

Senyor Ramon Canet (ein bekannter Buchhändler mit Geschäft auf der Rambla von Figueres) - „ein sehr föderaler und verständiger Mann“ - wird nicht Präsident des Landes. Einen solchen gibt es nicht, dafür König Pere VII. oder Jaume VIII. So wird Senyor Canet zum Präsidenten der Vereinten Nationen ernannt.

 

Und auf diese Weise verteilt der Autor die Aufgaben und Ämter in seinem hypothetischen Staatgebilde an Freunde, Verwandte, Bekannte und auch Feinde – irgendwie kommt uns in Katalonien Lebenden die Methode bekannt vor, oder? Dies wieder mit vielen Anspielungen und bisweilen ironischen Anmerkungen. Die Zuhörer werden alles wohl verstanden haben und manchmal schadenfroh oder auch – wenn von einer Boshaftigkeit betroffen - süß-sauer reagiert haben. Wir haben heute Schwierigkeiten, zumal als Nicht-Einheimische. Deshalb greife ich nur einiges heraus – notgedrungen ein wenig zusammenhangslos.

 

Die Nationalbibliothek wäre im Schloss von Perelada (wo sich tatsächlich eine bedeutende Bibliothek befindet). Dort würde ein illuminierte Bibel in 77 Sprachen hergestellt werden, angeführt vom Katalanischen, Lateinischen und Griechischen (Katalanisch wäre dann wohl Weltsprache!?). Außerdem gäbe es dort eine Schule der hohen Diplomatie, deren Rektor „En Miquel Mateu“ ist (gemeint ist der Unternehmer, Politiker, Mäzen, Franco-Freund und Botschafter Miquel Mateu i Pla, Schlossbesitzer von Perelada, uns auch als Begründer der Urbanisation Santa Margarita bekannt). Onkel und Neffen von ihm würden mit der „Purpurseide“ bekleidet werden (in der Antike ein herrscherliches Attribut). Noch etwas spitzer geht Fages de Climent mit dem Großgrundbesitzer (Felip?) Marquès de Camps um. Ihm trägt der Autor den Oberbefehl über alle „Weinschläuche“ des Militärs an, aber auch „dank seine 70 Masien“ das erbliche Amt des Landwirtschaftsministers.

 

Natürlich braucht eine „so religiöse und ökumenische“ Metropole wie Vilasacra eine repräsentative Kathedrale. Diese würde auf dem aus der Ebene herausragenden Hügel von El Far, nahe bei Figueres, errichtet werden. Ihre Ausmaße würden die der nicht gerade kleinen bisherigen „Kathedrale des Empordà“ in Castelló d´Empúries, aber auch die der „Sagrada Familia“ in Barcelona – „wenn diese denn einmal fertiggestellt wird“ – bei weitem überschreiten. Jene beiden Sakralgebäude würden sich dann gegenüber der neuen Metropolkirche wie die Bergkapellen Sant Onofre oder Sant Joan ses Closes ausnehmen. Und wer soll der Baumeister dieses gewaltigen Werkes werden? Das kann nur – per Akklamation! - „En Salvador Dalí“ sein! Aber um den „Impetus“ des Genies zu bremsen und die Föderalität zu wahren, werden ihm eine Menge Helfer und Supervisoren an die Seite gestellt. (Dalí hat es dann aber vorgezogen, ein Heiligtum zu eigenen Ehren zu errichten, das Theater-Museum! Aber hat er sich vielleicht auf diese Weise die Idee zu seiner Kunst-Kathedrale von Fages de Climent geben lassen?).

 

Für sich selber will Fages de Climent nicht den „Lehrstuhl für Poesie und Prosa“ in Anspruch nehmen. Dafür behält er sich die Kommentierung der „Antologia Palatina“ vor (eine Sammlung griechischer Epigramme und Verse, die in Heidelberg aufbewahrt wird.) Als Hilfskraft bestimmt er den „Gaiter de la Muga“, also sein epigrammatisches „Ego“. Diese Profession will er umsonst ausüben. Denn nach der Publikation seines „Somni de Cap de Creus“ wird man die bisher wüsten Flächen in Urbanisationen für „ elegante und kosmopolitische Leute“ verwandeln. Das würde ihm Einkünfte eintragen, um seine Schulden abzutragen, Verse zu machen und ihm erlauben, seine Bücher zu verschenken, ja diejenigen, die „ihm die Ehre geben, sie zu lesen“, zum Essen einzuladen. (Auch hier zeigt sich der Autor – wenigstens teilweise als Visionär, denn hinter Cadaquès, bei Port Lligat, hat man ja eine Menge „prächtiger“ Residenzen errichtet, obwohl das Cap de Creus unter Naturschutz steht! – Der „Natursteinlook“ dieser Häuser kaschiert nur die Zersiedlung der Landschaft.).

 

Am Schluss seines Vortrags entschuldigt sich der Autor, dass er nicht alle mit „Sinekuren“ versorgen könne. Aber es würden sich genug neue Möglichkeiten anbahnen. Man blicke nur nach Roses! Das seit den griechischen Zeiten verschlafene Dorf habe zwar noch seine enge Zufahrtsstrasse, sei aber dabei, sich wieder in eine Stadt zu verwandeln und die Bebauung bis zum Fluss Fluvia, ja bis l´Escala auszudehnen. (Fages de Climent meint wohl die sich damals abzeichnenden Küsten-Urbanisationen, wobei glücklicherweise nur ein Teil der Planungen verwirklicht wurde.)

 

1213 seien die Dinge nicht so gelaufen, wie man es sich gewünscht hätte, aber die „göttliche Vorsehung“ wolle uns jetzt mit einem „unblutigen“ Sieg entschädigen. „ Wir haben, fast ohne es zu bemerken, die große Schlacht des Tourismus gewonnen…

 

Senyors: he dit – ich habe gesprochen“.

Wie wahr, möchte man heute hinzufügen!

 

Touristen und Einheimische auf dem sonntäglichen Markt in Roses
Touristen und Einheimische auf dem sonntäglichen Markt in Roses

Ich komme zu einer Wertung.

 

Es war mutig und gewagt, solche für das Franco-Spanien subversiven Gedanken zu äußern, dazu in der verpönten katalanischer Sprache.

 

Das alles ist sehr witzig, selbstkritisch vorgetragen, liebenwürdig provinziell. Deshalb sollte man diesen Vortrag auch nicht mit deutschem „Bierernst“ kommentieren. Aber es steckt doch ein ernster Hintergrund dahinter. Den kann man auch nicht abtun, indem man sagt, die Utopie von Fages de Climent beruht auf einem „wenn nicht gewesen wäre…“ und ist damit nicht seriös. Der – wenn auch ironisch gebrochene - Hintergrund seiner Utopie ist der Traum von den geeinten und womöglich selbständigen „Països Catalans“, der Wiedervereinigung der geteilten Länder des katalanischen Sprach- und Kulturraumes: „La pàtria somniada“ – das erträumte Vaterland. Dieser „Traum“ ist in der Gegenwart sehr lebendig.

 

Wenn man das alles auf das kulturell-geschichtliche Erbe bezieht, auf eine stärkere Regionalisierung innerhalb der bestehenden Staaten Europas und auf die Rückbesinnung auf Gemeinsamkeiten sprachlich, kulturell, geschichtlich verbundener Räume ist das akzeptabel. Der erwähnte „Eurokongress 2000“ spricht im Falle von Katalonien und Okzitanien von einem „Euroespai llati central“, einem „zentralen Raum der Latinität“ und fordert von den Regierungen eine stärkere Berücksichtigung der Eigenständigkeit und Verbundenheit dieser Räume.

 

Aber Träume von einem „geeinten und freien Vaterland“ bergen Gefahren – das wissen wir Deutsche. Damit können Völker von Politikern manipuliert und verführt werden. Es werden auch nicht alle Bedenken ausgeräumt, wenn der Philosoph und Historiker Alexandre Deulofeu – auch einer aus der Carrer Monturiol – im Vorwort des Büchleins seines Freundes Fages de Climent 1978 versichert, dass „es kein Volk mit weniger hegemonialem oder imperialistischem Geist gäbe als das empordanesische“. Dies gilt wohl auch derzeit für die übrigen Katalanen, die ja ihre Unabhängigkeitsdemonstrationen sehr friedlich durchführen.

 

Ich verstehe, dass viele Katalanen sich nicht nur darauf beschränken wollen, eine „Kulturnation“ zu sein, sondern den Wunsch haben, auch staatlich selbstständig zu werden. Unter bestimmten Perspektiven erscheint die Geschichte Kataloniens als ein fortschreitender Weg des Scheiterns oder Unterdrückung der Selbstständigkeitsbestrebungen und der Katalanität. Doch der ständige Blick auf vergangener Größe oder das Scheitern geschichtlicher Momente, bringt die Gefahr mit sich, die Spielräume gegenwärtiger Möglichkeiten zu übersehen. Die Erfahrung zeigt, dass die Fixierung auf „großartige“ Träume zum Realitätsverlust führen kann, individuell wie kollektiv.

 

Ob der Weg, den derzeit die führenden katalanischen Politiker gehen und mit ihnen ein Großteil der Katalanen, in unsere Zeit passt und zum Besten der Menschen in Katalonien ausschlagen wird, erscheint mir – als freundlichem Außenstehenden und teilnehmenden Beobachter - fraglich.

 

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