„El Procés“ - Ein Gerichtsurteil, das „Aufruhr“ ausgelöst hat. Bericht und Kommentar zum „Prozess“ gegen die Führer der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung

Demonstration in Barcelona 11.11.18 (Bild: ANC)
Demonstration in Barcelona 11.11.18 (Bild: ANC)

Wir Ausländer, die mit Katalonien verbunden sind, blicken mit Sorge auf die Vorgänge in dieser Region, aber auch auf die Entwicklungen im übrigen Spanien.

 

Folgen des Urteils

 

Wir sehen im Fernsehen und in Zeitungen Bilder von großen Demonstrationen, die Freiheit für die „politischen Gefangenen“ und Selbstbestimmung für Katalonien fordern. Immer noch verlaufen die Zusammenkünfte in Barcelona und Girona tagsüber überwiegend friedlich. Wir sehen aber auch nächtliche Zusammenrottungen von meist jungen Protestierenden, die Barrikaden errichten, Steine werfen, Container und Absperrungen anzünden, Zerstörungen anrichten, Polizisten attackieren…Wir sehen katalanische Polizisten, die mit Wasserwerfern und Gummigeschossen mit bisher ungewohnter Härte gegen Demonstranten vorgehen. Wir sehen Demonstrationen, die die Einheit Spaniens und massives Vorgehen gegen die Unabhängigkeitsbefürworter fordern. Auch hier bleibt es nicht ohne Ausschreitungen radikaler Gruppen am Rande. Wir erleben Straßensperrungen und Blockierungen von Eisenbahnlinien und Flughäfen, die die Verbindungen innerhalb des Landes und zum übrigen Europa unterbrechen.

 

Die Regierung Kataloniens erscheint hilflos, der Präsident hält unbeirrt an einem zeitlichen Plan zur Selbstständigkeit fest, hat aber längst die Führungsrolle verloren. Die Politiker der Unabhängigkeitsparteien sind zerstritten und uneins über den weiteren Weg. Die interimistische spanische Regierung der Sozialisten laviert angesichts der anstehenden Wahlen, hält an Rechtspositionen fest und trägt nichts zur Lösung der Krise bei. Derweilen wächst in Spanien die Zustimmung zu rechts-populistischen Positionen und der ultranationalistischen Partei Vox, in Katalonien verstärkt sich die Abneigung gegen die Zentralgewalt und die Hinwendung zu radikalen Unabhängigkeitsbestrebungen. Katalonien und Spanien sind tief gespalten in unterschiedliche und nahezu unversöhnliche Fraktionen.

 

Bisher schufen die Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien Unruhe, die blieb aber im erträglichen Bereich. Man konnte hoffen, dass sich die Lage mit der Zeit beruhigen werde. Nach dem Sieg der Sozialisten bei den Wahlen im April 2019 durfte man erwarten, dass die auseinandergedrifteten Parteien zum Dialog finden würden. Seit dem Gerichtsurteil eskaliert die Lage und erscheint unumkehrbar. Die harten Urteile wegen angeblichen Aufruhrs der katalanischen Politiker haben den Aufruhr, der ihnen unterstellt wurde, auf den Straßen ausgelöst. Wir fragen uns: wo führt das hin? Ohne Zweifel tun sich hier beängstigende Perspektiven auf, nicht nur für die in Katalonien lebenden Ausländer, sondern für das ganze Land, das Zusammenleben der verschiedenen Bevölkerungsgruppen, die Sicherheit, den Tourismus, die Wirtschaft…

 

Unvereinbare Positionen

 

Auf Seiten der spanischen Regierung, der nicht in Katalonien beheimateten Parteien, der spanischen Öffentlichkeit - selbst in den Redaktionen liberaler Zeitungen – hält man daran fest, dass die Verurteilten gegen die spanische Verfassung, gegen spanisches Recht gehandelt hätten und dass die Urteile notwendig und rechtens seien. Hier stützt man sich auf das internationale und in der spanischen Verfassung verankerte Recht des Staates seine Integrität zu bewahren. Spanien sei ein Rechtsstaat, der dem Recht hätte Geltung verschaffen müssen. Ja – so wird auch argumentiert - nachdem das Gericht den Vorwurf der „Rebellion“ hätte fallen gelassen, seien die Urteile geradezu maßvoll ausgefallen. Spanische Nationalisten halten das Urteil für zu milde und sprechen - wie die Partei Vox - von einer „Schande“ für Spanien. Das Urteil setze den ungesetzlichen Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien kein Ende.

 

Die Unabhängigkeitsbefürworter in Katalonien und die Verurteilten selbst halten dagegen daran fest, dass die Angeklagten Opfer eines politischen Prozesses und einer repressiven und autoritären Rechtsprechung seien. Sie berufen sich auf fundamentale internationale und demokratische Rechte wie die parlamentarische Immunität, das Recht eines Volkes, selbst über seine Verhältnisse und Zukunft zu entscheiden, das Recht auf Selbstbestimmung, auf Meinungs- und Demonstrationsfreiheit sowie auf zivilen Ungehorsam in begründeten Fällen. Ihr Weg sei demokratisch, friedlich und auf Verhandlungen mit der Zentralregierung ausgerichtet gewesen. Die Abhaltung des Referendums und die einseitige Unabhängigkeitserklärung sei die Wahrnehmung eines Volksauftrages gewesen. Hier hält man die Strafen für ungerechtfertigt und fordert Freiheit für die Verurteilten.

 

Zwei Sichtweisen, die sich unvereinbar gegenüberstehen.

 

Versuchen wir einmal, den Prozess, die vorhergehenden Geschehnisse und das Urteil so unvoreingenommen wie möglich zu prüfen.

 

Auslöser des Prozesses

 

Ausgangspunkt des Prozesses war ein am 1. Oktober 2017 in Katalonien durchgeführtes Referendum und die vorherige, dazu gehörige Gesetzgebung im Parlament Kataloniens.

 

Der Fußballer Piqué stimmt beim Referendum O-1 in einem Stimmlokal in Barcelona ab ( Bild: efe)
Der Fußballer Piqué stimmt beim Referendum O-1 in einem Stimmlokal in Barcelona ab ( Bild: efe)
Polizisten verschaffen sich Zugang zu einem Stimmlokal in Barcelona ( Bild: Robert Bonet, eldiario.es)
Polizisten verschaffen sich Zugang zu einem Stimmlokal in Barcelona ( Bild: Robert Bonet, eldiario.es)

Das Referendum ist aber kein isoliertes Ereignis, sondern der Kulminationspunkt einer jahrelangen Auseinandersetzung um die Legitimität der Unabhängigkeitsbestrebungen Kataloniens und der Volksbefragungen dazu. So war am 9. November 2014 dem Referendum „1-O“ eine vom spanischen Verfassungsgericht für ungültig erklärte Volksbefragung vorausgegangen, in der 80% der 2,3 Millionen Teilnehmer die Unabhängigkeit Kataloniens unterstützten. Darauf hin wurde der damalige Präsident der Generalitat, Artur Mas, und Mitglieder seiner Regierung wegen „Ungehorsams“ gegenüber den Anordnungen des Verfassungsgerichtes zu zeitweiliger „Amtsunfähigkeit“ und zur Erstattung der „veruntreuten“ öffentlichen Aufwendungen für die Befragung verurteilt.

 

2016 kündigte der Präsident der katalanischen Provinzialregierung, Charles Puigdemont, ein Referendum über die Unabhängigkeit Kataloniens an, lud die Zentralregierung zur Zustimmung ein, versicherte aber, dass die Konsultation auch ohne Zustimmung Madrid erfolgen werde.

 

Nach dem Beschluss des katalanischen Parlaments war das Referendum bindend für das Handeln der katalanischen Regierung. Im Falle einer Zustimmung der Befragten sollte der Weg zur Unabhängigkeit der Region beschritten werden. Hierfür wurde im August 2017 ein Gesetz beschlossen, das den „Prozess des Übergangs“ Kataloniens in einen unabhängigen Staat regelte. Ebenso wurde ein Gesetz verabschiedet, das die Durchführung des Referendums zum Inhalt hatte, wobei festgelegt wurde, dass

 

„das katalanische Volk ein souveränes politisches Subjekt ist, das als solches das Recht ausübt, frei und demokratisch über seine politische Verfassung zu entscheiden.“

 

Für die Gesetze stimmten mit ihrer absoluten Mehrheit im Parlament nur die Abgeordneten der Parteienkoalition, die die Regierung stellte. Die Parlamentarier der Ciutadanos (Bürgerpartei), der PSC (Sozialisten) und der PP (Volkspartei) verließen das Plenum vor der Abstimmung. Die Fraktion Catalunya Sí que es pot enthielt sich der Stimme.

 

Die Frage im Referendum war:

 

„Wünschen Sie, dass Katalonien ein unabhängiger Staat sei in Form einer Republik?“

Als Antwort war „Ja“ oder „Nein“ zugelassen.

 

Die Gesetzgebung und das Referendum wurden vom spanischen Verfassungsgericht (Tribunal Constitutional) für mit der Verfassung unvereinbar und illegal erklärt.

 

Die Vorgänge vor der Consejería de Economía in Barcelona

 

Im Vorfeld (am 20. September) wurden auf Anordnung der Fiscalía General del Estado (der Generalstaatsanwaltschaft Spaniens) polizeiliche Aktionen in Barcelona vor dem von Oriol Junqueras geführten „Ministerium“ durchgeführt. Es ging darum, Register und Material zur Vorbereitung des Referendums aufzufinden und zu beschlagnahmen. Dabei gab es Festnahmen unter den Mitarbeitern der Behörde, die bei der Untersuchung anwesend sein sollten. Die Organisatoren der spontan über soziale Medien zusammengerufenen, aber angemeldeten Demonstration gegen die Aktion waren von der immensen Zahl der Teilnehmer überrascht und bei ihrer Kontrolle überfordert. Der Aufruf erfolgte unter dem Motto „Wir verteidigen die (katalanischen) Institutionen“. Agenten der Guardia Civil wurden von der Menge an der Durchführung ihres Auftrages behindert. Die Manifestanten protestierten lautstark gegen die Aktionen und Festnahmen, wobei Jordi Cuixart, Führer einer kulturellen Vereinigung (Òmnium Cultural), die das Unabhängigkeitsbegehren unterstützt, per Laussprecher die Menge unterstützte, sie aber auch später  - als die Situation eskalierte - aufforderte, nach Hause zu gehen. Die Protestierenden umringten die Gebäude und schlossen die Polizisten und die Angehörigen einer Gerichtskommission in der Nacht eine Zeit lang ein. Dabei ergaben sich tumultuarische Szenen, Rempeleien und die Beschädigung von Polizeifahrzeugen (wobei nicht geklärt wurde, wer die Fahrzeuge beschädigte oder wodurch sie Schaden erlitten).

 

Ich nenne diesen Vorfall, weil seine Bewertung eine Schlüsselrolle im Prozess spielte. Die Anklage sprach nicht nur von physischer Gewalt, die stattgefunden habe, sondern auch von „violencia intimidatoria“, d.h. von Gewalt durch Einschüchterung.  Das Gericht sah in diesen und ähnlichen Ereignissen den Tatbestand des „Aufruhrs“ für erfüllt und machte die inhaftierten Angeklagten dafür mitverantwortlich. Die Verteidigung sah bei den Vorgängen weder eine Masse von gewalttätig und planmäßig Rebellierenden noch eine Zusammenrottung von vorsätzlichen Aufrührern, sondern die friedliche Ansammlung von Protestierenden mit einigen Teilnehmern, die außer Kontrolle gerieten – ein Eindruck, der von Beobachtern und Zeugen wie dem damalige Podemos-Chef Albano Dante Fachin oder der Bürgermeisterin von Barcelona, Ada Colau bestätigt wurde; bei den Anführern konzedierte man allenfalls eine „Anstiftung“ zum zivilen Ungehorsam oder Vereitlung polizeilicher Maßnahmen. Der beteiligte Jordi Sànchez (Präsident der privaten Vereinigung "Assemblea Nacional Catalana") sagte aus, dass er in Verhandlungen mit der Polizei und den Demonstranten eine Gasse für den Ein- und Ausgang der von der Guardia Civil begleiteten Kommission erreicht habe. Deren Arbeit sei nicht behindert worden und es habe kein physisches Risiko ihrer Integrität bestanden.

 

Umstände des Referendums

 

Das Referendum wurde trotz des gerichtlichen Verbotes durchgeführt. Die Einladung und die Gesetzgebung zur Durchführung des Referendums erging vom Parlament. Verantwortlich für die Ausführung waren der Vizepräsident der Provinzialregierung (Generalitat), Oriol Junqueras, und der Consejero (Minister) für innere und auswärtige Angelegenheiten, Raül Romeva. Die Vorbereitung und Durchführung mit Instruktionen, Informations- und Werbematerial, Kauf von Urnen, Bestellung von internationalen Beobachtern usw. lag in den Händen eines Komitees, das mit Vertretern politischer Einrichtungen, politisch-kultureller und sozialer Organisationen, gewählten Personen und Privatleuten zusammengesetzt war. Die Kosten wurden zum Teil von der Regierung angewiesen (was nicht immer ausgeführt wurde), aber auch von nichtstaatlichen Organisationen und Privatleuten bestritten. Als Örtlichkeiten für die Befragung dienten öffentliche Gebäude, hauptsächlich Schulen, deren Leiter oder die zuständigen Rathäuser sie für das Vorhaben zur Verfügung gestellt hatten.

 

Von den mehr als 5 Millionen Abstimmungsberechtigten hatten 43% am Referendum teilgenommen. Mit „Ja“ stimmten 90 %.

 

Die Abstimmungen fanden unter großen Schwierigkeiten und ohne Zweifel mit damit einhergehenden Unregelmäßigkeiten statt. In vielen Abstimmungslokalen hatten Abstimmungsbefürworter die Nacht verbracht, um die Entfernung der Abstimmungsrequisiten durch Polizeikräfte und die Schließung der Lokale zu verhindern. Vielfach wurden Unterlagen und Requisiten versteckt und die Abstimmungsabsicht mittels anderer Aktivitäten getarnt. Die katalanische Polizei, die Mossos d´Esquadra – rund 1000 von ihnen waren im Einsatz - vermied Gewaltanwendung und beschränkte sich weitgehend darauf, die Teilnehmer auf die Illegitimität der Abstimmung und die bevorstehende Schließung der Abstimmungslokale am Morgen hinzuweisen oder zum Verlassen der Schulen aufzufordern. Trotz des Auftrages eines Koordinationsstabes zur Schließung der Befragungslokale schlossen sie lediglich 134 von mehr als 2000 Lokalen. Wenn Abstimmungswillige die Zentren blockierten, verhielten sie sich passiv oder zogen sich zurück. In manchen Fällen versuchten die Mossos zwischen der Guardia Civil und den Widerständlern zu vermitteln, in einem Fall sollen sie versucht haben, die Aktionen der Guardia Civil zu verhindern. Die Zurückhaltung der katalanischen Polizisten - gegenüber einer Bevölkerung für die sie zuständig sind - brachte ihnen Kritik von Unabhängigkeitsgegnern und ihrer Führung Anklagen ein.  

 

Wie ich selbst beobachten konnte, verliefen die Abstimmungen in vielen Orten – vor allem auf dem Lande – geordnet, friedlich und geradezu in Volksfeststimmung. Anders war es in Barcelona, Girona und einigen größeren Städten, aber auch kleinen Orten, wo katalanische Politiker zur Abstimmung erwartet wurden. Rund 400 Abstimmungslokale waren von Einsätzen der Guardia Civil und der Nationalpolizei betroffen. Das spanische Innenministerium hatte ca. 2000 Polizisten der Guardia Civil und der Nationalpolizei - ein Drittel der verfügbaren Kräfte – meist aus anderen spanischen Landesteilen zusammengezogen, um die Durchführung des Referendums zu verhindern.  (Die Zahl der polizeilichen Einsatzkräfte wird unterschiedlich angegeben. Manche Quellen geben weitaus höhere Zahlen an, als ich sie genannt habe.) Vor allem da, wo die spanisch-nationalen Sicherheitskräfte eingesetzt wurden, widersetzten sich Abstimmungsbefürworter den polizeilichen Maßnahmen. Die Zahl der Verletzten, Ursachen und Grad der Verletzungen sind umstritten. Das katalanische Gesundheitsministerium gab an, dass auf Seiten der Protestierenden rund 800 Personen ärztliche Hilfe in Anspruch nehmen mussten, auf Seiten der Polizei nennt das spanische Innenministerium 431 Verletzte. Ohne Zweifel hat es auf beiden Seiten Gewaltanwendungen gegeben, wobei aber auch hier der Eindruck hinterbleibt, dass die meisten der Verhinderungswilligen nicht-offensiven Widerstand leisteten – entsprechend den Aufforderungen der Organisatoren des Referendums - die Polizisten aber massiv einschritten und so Gegenreaktionen auslösten. Immerhin eröffneten zwölf katalanische Richter Untersuchungsverfahren wegen der polizeilichen Aktionen.

 

Nach dem Gerichtsbeschluss zum Eingreifen der Polizei sollten die polizeilichen Aktionen „das normale bürgerliche Zusammenleben“ nicht schädigen. In einer Instruktion des Innenministeriums wurde angeordnet, die Sicherheit sowohl der Bürger als auch der Polizeikräfte über die Wirksamkeit des Einsatzes zu stellen. Gewalt sollte nur verhältnismäßig und minimal angewendet, Exzesse vermieden werden. Dass dies eingehalten wurde, kann bezweifelt werden. Die Instruktion habe die Agenten nicht erreicht, sagte einer der Kommandanten der Guardia Civil aus. Die vor Gericht vernommenen Agenten der Guardia Civil und manche Mossos sprachen von einem Klima der Spannung und Feindseligkeit vor den Lokalen des Referendums und hoben Akte der Gewalttätigkeiten von Seiten der Stimmwilligen hervor. Zeugen der Verteidigung berichteten von unverhältnismäßiger Gewaltanwendung der Gardisten und von grundlosen Misshandlungen. Viele (nicht vom Innenministerium aufgenommene) Videos zeigen, wie schwer gerüstete Polizisten brutal gegen auf dem Boden sitzende oder zum Zeichen ihrer nicht offensiven Haltung die Hände hebende Zivilisten vorgehen. Das Oberste Gericht vermied es, der Klärung dieser Widersprüche nachzugehen. Es stellte heraus, dass die Polizisten ihrem Auftrag nachkamen, illegale Aktionen zu unterbinden und die Aktivisten und Inspiratoren des Widerstandes den Vollzug des Rechtes verhindern wollten.

 

Nach dem Referendum – eine umstrittene Unabhängigkeitserklärung

Der Präsident Charles Puigdemont vor dem katalanischen Parlament am 10.10.2017 (Bild: gen.cat)
Der Präsident Charles Puigdemont vor dem katalanischen Parlament am 10.10.2017 (Bild: gen.cat)

Die katalanische Regierung sah in dem Abstimmungsergebnis des Referendums eine Bestätigung des Unabhängigkeitswillens der Katalanen.

 

Das spanische Verfassungsgericht hatte eine für den 9. Oktober geplante Sitzung des katalanischen Parlaments, in der eine einseitige Unabhängigkeitserklärung vorgesehen war, suspendiert – die Aufhebung wurde später vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gebilligt und als „notwendig“ bezeichnet. Dennoch erklärte der Präsident der Generalitat, Puigdemont, am 10. Oktober vor dem Parlament eine bedingte und zukünftige Unabhängigkeit Kataloniens. Er forderte aber gleichzeitig vom Parlament „die Auswirkungen der Unabhängigkeitserklärung zu „suspendieren“, um „Dialoge und Verhandlungen auf nationaler, staatlicher und internationaler Ebene“ zu etablieren. Die Worte Puigdemonts:

 

„In diesem historischen Moment und als Präsident der Generalitat übernehme ich, indem ich die Ergebnisse des Referendums präsentiere, das Mandat der katalanischen Bevölkerung und dass Katalonien ein unabhängiger Staat in Form einer Republik wird.“

 

Die Anfrage des spanischen Ministerpräsidenten Rajoy, ob es sich um eine offizielle Unabhängigkeitserklärung gehandelt habe, beantwortete Puigdemont nicht.

 

Der Erklärung Puigdemonts folgte am 27. Oktober im katalanischen Parlament die Verabschiedung einer Vorlage der Unabhängigkeitsparteien, in deren Präambel die Errichtung „der katalanischen Republik als eines unabhängigen und rechtlich souveränen, demokratischen und sozialen Staates“ festgelegt wurde. Die Verabschiedung erfolgte wieder in Abwesenheit der Parlamentarier derjenigen Parteien, die eine Unabhängigkeit Kataloniens ablehnen. Diese Ereignisse führten zur Amtsenthebung der katalanischen Regierung und der Auflösung des Parlamentes durch den Senat und die Regierung Spaniens unter Anwendung des Artikel 155 der spanischen Verfassung.

 

Die Verteidigung der Angeklagten erklärte im Prozess, dass die einseitige Unabhängigkeitserklärung die „Präambel“ eines Vorhabens gewesen sei, über das nicht abgestimmt wurde. Sie sei auf den Dialog angelegt gewesen und ohne Folgen und rechtliche Wirkung geblieben. So sei sie auch nicht im Amtsblatt der katalanischen Regierung veröffentlich worden.

 

Das Gericht argumentierte, dass die Unabhängigkeitserklärung nicht nur von symbolischer Art gewesen sei, denn die katalanischen Autoritäten hätten ein „Paket von Regeln zur Entwicklung des rechtlichen Rahmens der Republik“ ausgearbeitet.

 

Bei der Neuwahl vom 21. Dezember gewannen die Unabhängigkeitsparteien knapp, stellten aber die absolute Mehrheit im katalanischen Parlament. Die Bildung des Parlaments und die Wahl eines neuen Präsidenten vollzog sich unter Schwierigkeiten, begleitet von großen Demonstrationen der Unabhängigkeitsanhänger und der „Konstitutionalisten“. Diese Manifestationen machten die Spaltung der Bevölkerung Kataloniens sichtbar.

 

Die spanischen Parlamentswahlen vom April 2019 führten die von dem inhaftierten Oriol Junqueras geführte Partei ERC (Republikanische Linke Kataloniens) zu einem großen Erfolg in Katalonien. Zudem wurde er als Europaparlamentarier gewählt. (Die Ausübung des Mandats wurde ihm vom Obersten Gericht nicht gestattet.)

 

Festnahmen und Anklagen

 

Schon vorher und in der Folge wurden führende Mitglieder der Unabhängigkeitsbewegung, die Exminister der katalanischen Regierung, katalanische Parlamentarier(innen) und der Kommandant der Mossos d´Esquadra vor das Gericht der Audiencia Nacional geladen und zu Teilen auf Grund von Anklagen wegen Rebellion und Aufruhr in Untersuchungshaft genommen. Charles Puigdemont, vier Ex-Minister(innen) und zwei weitere führende Independisten entzogen sich der Vorladung durch Flucht ins Ausland.

 

Schließlich zog der vorsitzende Richter der Abteilung für Strafprozesse des Tribunal Supremo (Oberster Gerichtshof Spaniens), Manuel Marchena, die causa an sich. Es verblieben am Ende - unter 25 Beschuldigten - zwölf in unterschiedlicher Weise wegen Rebellion, Aufruhr (sedición), Veruntreuung öffentlicher Gelder (malversion) und Ungehorsam (desobediencia) Angeklagte. Es waren neun Ex-Consejeros, an ihrer Spitze der Vizepräsident Oriol Junqueras, die Parlamentspräsidentin Carme Forcadell und die Führer der zweier Unabhängigkeitsvereinigungen, Jordi Sànchez y Jordi Cuixart. Charles Puigdemont wurde wegen Rebellion angeklagt; dem Auslieferungsbegehren Spaniens war zwar in Deutschland - nicht wegen „Rebellion“, sondern wegen „Veruntreuung“ - stattgegeben worden, es wurde aber nicht vollzogen, weil das spanische Gericht den europäischen Haftbefehl zurückzog. So fand der Gerichtsprozess ohne Puigdemont statt. (Nach Verkündigung der Urteile wurde der Auslieferungsantrag für ihn reaktiviert – diesmal an Belgien gerichtet.)  Von den angeklagten Ex-Consejeros befanden sich neun in Untersuchungshaft, drei in vorläufiger Freiheit.

 

Die Anklage wurde von der Fiscalia, der Anklagebehörde, erhoben. Junqueras, Cuixart, Sànchez und Forcadell wurden wegen „Rebelión“ angeklagt. Für Junqueras als hauptsächlichen Urheber forderte der Fiscal die Höchststrafe, 25 Jahre Gefängnis und lebenslange „Inhabilitation“, d. h. Ämterverbot; für die übrigen im Gefängnis sitzenden Ex-Minister sah die Anklagebehörde Haftstrafen von 16 Jahren vor, für Sànchez, Cuixart und Forcadell 17 Jahre. Die in vorläufiger Freiheit befindlichen Ex-Consejeros, Santi Vila, Meritxel Borás und Carles Mundó, sollten wegen Veruntreuung sieben Jahre Gefängnis erhalten. Zusätzlich forderte die Fiscalia für sie ein Jahr und acht Monate Ämterverbot wegen „Ungehorsams“.

 

Neben der Fiscalia trat die rechtsextreme Partei Vox als „Volksankläger“ auf – diese Einrichtung gibt es im spanischen Prozessrecht. Ihre Anklagepunkte und Forderungen überschritten die Anträge der Fiscalia bei weitem, allein für Junqueras forderte die Vertretung der Partei 74 Jahre Gefängnis wegen Rebellion, Bildung einer kriminellen Vereinigung und Veruntreuung.

 

Im Gegensatz zur Fiscalia beschränkte sich der „Abogado del Estado“ auf den Vorwurf der „Sedición“, des „Aufruhrs“, bei den Hauptangeklagten. (Die „Abogacía del Estado“ ist eine besondere Einrichtung des spanischen Rechtssystems. In ihr nehmen Juristen, die der Staatsverwaltung unterstellt sind, die rechtliche Vertretung und Verteidigung der staatlichen Organe und Einrichtungen wahr, auch die der autonomen Regionen.) Die Abogacía del Estado hielt für die in Haft befindlichen Angeklagten Gefängnisstrafen von 12 (für Junqueras) bis 8 Jahren für angemessen.

 

Nach zweijährigen Vernehmungen und Erhebungen, begannen die mündlichen und öffentlichen Verhandlungen am 12. Februar 2019 und wurde am 16. Juni beendet. Am 14. Oktober hatten alle sieben Richter ihre Unterschrift unter die Urteile gesetzt und sie wurden schriftlich veröffentlicht (Sentencia Nº 459/2019 del TS - https://www.poderjudicial.es)

 

Die Prozessführung

Der Präsident der Strafkammer des Tribunal Supremo, Manuel Marchena (Bild: efe)
Der Präsident der Strafkammer des Tribunal Supremo, Manuel Marchena (Bild: efe)

Die Richter und Richterinnen des TC haben alle ihre Karriereleiter im spanischen Rechtssystem durchlaufen und sind somit der Tradition der spanischen Rechtsprechung verpflichtet, die eher konservativ und autoritär als liberal ist. Allerdings zeigen die Berufsbiographien der Richter, dass das Kollegium in Hinsicht auf die Rechtsorientierungen gemischt zusammengesetzt ist. Indirekt werden die Richter der hohen spanischen Gerichte von politischen Institutionen ins Amt gebracht, dürfen aber keine politische Bindung haben. Die Berufungsgeschichten der einzelnen Richter des TC zeigen, dass sie nicht nur von der konservativen PP, sondern auch von der PSOE oder im Zusammenwirken beider Parteien designiert wurden. Katalane ist allerdings keiner! Das Berufungsverfahren entspricht der Praxis anderer europäischer Länder und ist noch kein Beweis dafür, dass das Gericht politisch abhängig und in Gefahr sei, sich „als Retter des Vaterlandes“ aufzuspielen. Diesen Vorwurf hat die Verteidigung der Angeklagten vorgebracht. Natürlich hat das Gericht diese Anschuldigung zurückgewiesen und seine Unvoreingenommenheit betont. So wies der Vorsitzende schon zu Beginn des Prozesses hin, dass das Gericht kein Vollzugsorgan der Anklagebehörde sei. Ob der Vorwurf der Parteilichkeit berechtigt war oder nicht, konnte nur die Prozessführung zeigen.

 

Die vom Prozess gemachten Videos zeigen, dass der Vorsitzenden Manuel Marchena eine Schlüsselrolle einnahm. Seiner Prozessführung kann man Souveränität und Sachbezogenheit attestieren. Er war eher auf Vermittlung als auf Konfrontation bedacht. Er war höflich, gelegentlich verständnis- und humorvoll, achtete auf die Einhaltung einer geordneten Prozessführung. Respektlosigkeiten gegenüber dem Tribunal ließ er nicht durchgehen. Den Angeklagten, der Verteidigung, den Zeugen gab er viel Raum für Ihre Plädoyers und Ausführungen, einmal sogar so ausgedehnt, dass die notwendige Erholungspause der Angeklagten nicht gewährleistet war. Andrerseits  ließ eine Reihe der von der Verteidigung geforderten Zeugen - sofern sie nicht direkt mit den Vorgängen zu tun hatten - nicht zu. Wenn die Aussagen der Zeugen zu sehr ins Persönliche oder Politische gerieten, riss ihm der Geduldfaden und er ermahnte zur Sachbezogenheit. Mit den geradezu grotesken Schnitzern der Anklagevertreter ging er duldsam um – vielleicht zu duldsam.

 

Der Prozess war öffentlich, bei jeder Sitzung war eine begrenzte Zahl von Zuschauern und Journalisten sowie die Familienangehörigen der Angeklagten zugelassen. Videos dokumentierten den Verlauf. So erhielt der Prozess geradezu den Charakter eines „Schauprozesses“, nicht im Sinne eines „Volksgerichtshofes“, sondern in der Art einer „Theateraufführung“, in der die Akteure ihre Rollen bravourös und wie erwartet spielten.

 

Das das Gericht sich die Urteilsfindung nicht leicht machte, zeigt allein die lange Zeit der Verhandlungen und der Aufmarsch von über 400 Zeugen aus allen Bereichen der Geschehnisse, die zur Beurteilung anstanden. Es waren Prominente darunter wie der frühere spanische Ministerpräsident Rajoy und Unbekannte wie einfache Polizisten und Abstimmungsteilnehmer. Auch die 493 Seiten umfassende schriftliche Urteilbegründung zeigt, dass das Gericht sich mit allen Einwänden und Argumenten der Angeklagte und ihrer Verteidigung gründlich und kompetent auseinandergesetzt hat.

 

Soweit ich sehe, bemühte sich das Gericht den Prozess formal korrekt zu führen. Dennoch sind Schwächen offenkundig. Es fällt auf, dass die Zeugenaussagen über die Gewalt- und Widerstandsakte der Demonstrations- und Abstimmungsteilnehmer großen Raum einnehmen, die der Opfer des Polizeieinsatzes aber weniger Aufmerksamkeit fanden. Eventuelle Übergriffe der Polizei seien nicht Gegenstand des Prozesses, sondern anderen Verfahren vorbehalten, argumentierte das Gericht. Das Gericht war bereit, im Bereich des Vorwurfes der "Rebellion" entlastende Momente für die Angeklagten anzuerkennen. Im Bereich "Aufruhr" hat man den Eindruck, dass das Gericht Beweise und Argumente für den Schuldspruch geradezu suchte und entlastende Aussagen und Gesichtspunkte abwies. Die Aktionen der Unabhängigkeitsbefürworter, der katalanischen Behörden, des katalanischen Parlaments, der katalanischen Regierung wurden ausführlich untersucht und auf Anklagepunkte abgeklopft, die Maßnahmen der spanischen Regierung, Behörden und Gerichte wurde nicht hinterfragt. Doch auch sie gehören zum Komplex des Geschehens.

 

So ging der Vorsitzende des Gerichts einer „Vergesslichkeit“ des Zeugen Rajoy nicht nach, der sich nicht an die Vermittlungsbemühungen des baskischen Parlamentspräsidenten (Lehendakari), Iñigo Urkullu, erinnern konnte. Nach Aussage des Lehendakari hatte er vor und zur Zeit des Refrendums zahlreiche Kontakte mit Rajoy und Puigdemont, in denen es darum ging, die Entwicklung in vernünftige Bahnen zu lenken und einen Dialog zwischen der spanischen und der katalanischen Regierung zu erreichen. Nach Rajoy gab es keine Vermittler.

 

Ein weiterer skandalöser Punkt, der nicht aufgeklärt wurde, ist die Behauptung, dass die genannte Instruktion des Innenministeriums für den Polizeieinsatz den Agenten angeblich nicht bekannt war. So gab es eine ganze Reihe von „Vergesslichkeiten“, Widersprüchen, ausweichenden Antworten und unbewiesenen Behauptungen von Zeugen zuungunsten der Angeklagten, denen das Gericht nicht weiter nachging. Um noch ein Beispiel zu nennen: der spanische Finanzminister Montoro – er kontrollierte auch die katalanischen Finanzen – hatte vor dem Prozess erklärt, dass das Referendum nicht mit Steuergeldern bezahlt worden sei. Als Zeuge im Prozess versuchte er diese Erklärung abzuschwächen und schob ein anderes (rechtlich haltloses) Argument nach: er bezeichnete die Öffnung der Schulen für das Referendum als „Veruntreuung“.

 

Sehr fragwürdig war die Art, wie das Gericht die Verbindung der Angeklagten zu den Widerstands- und Gewaltakten bei den Vorgängen vor dem Wirtschaftministerium und beim Referendum herstellte. Das Gericht führt in seiner Urteilsbegründung an, die katalanische Regierung und die Unabhängigkeitsvereinigungen hätten durch ihre dauernde und hartnäckige Missachtung („offene Feindseligkeit“) der gerichtlichen Verbote und ihre Forderung auf Autodetermination ein Klima geschaffen, in dem Widersetzlichkeiten und Gewalt gedeihen konnten. Sie hätten auch die Mobilisierung der Massen im Falle des Scheiterns ihrer Pläne geplant (hierfür wurde ein Dokument herangezogen, dessen Kenntnis die Angeklagten bestritten). Das „Klima“ allein sei noch kein Delikt, hingegen träfe das auf den Vorsatz zu, „die Bürger in einem öffentlichen und turbulenten Aufstand zu mobilisieren, der auch die Durchsetzung von Gesetzen verhindert und die Durchsetzung gerichtlicher Entscheidungen behindert.“ Somit seien die Angeklagten für die Widersetzlichkeiten, Tumulte und Gewaltakte am 20. September und 1. Oktober verantwortlich.

 

Dem steht allerdings entgegen, dass die Angeklagten nie Gewalt befürwortet und stets auf einen friedlichen Weg und Dialog bestanden haben. Direkte Zusammenhänge zwischen eventuellen Übergriffen von Demonstrationsteilnehmern und Stimmwilligen ließen sich nicht nachweisen. Und ob Menschenketten und Sitzstreiks den Tatbestand des „Aufstands“ erfüllen, mag man bezweifeln. Nicht umsonst warnten selbst spanische Strafrechtler, dass hier ziviler Widerstand und Grundrechte kriminalisiert würden. Die wohl zutreffende Aussage, Ada Colaus, dass das Referendum und der Widerstand gegen seine Verhinderung „nicht die Sache einer Institution oder Partei, sondern der Menschen“ war, fand kein Gehör.  So wurden indirekte Zusammenhänge konstruiert, um den Vorwurf des „Aufruhrs“ zu belegen. Der Grundsatz „Im Zweifel für den Angeklagten“ blieb im „Prozess“ auf der Strecke.

 

Im übrigen wäre es in der Logik der Rechtsauslegung des Gerichts gewesen, alle Stimmwilligen, die die Stimmlokale schützten, wegen „Aufruhrs“ vor Gericht zu stellen. Da dies ersichtlich unmöglich gewesen wäre, beschränkte man sich auf die „principales autores“. Dem Einwand begegnet das Gericht, indem es behauptet, die Teilnehmer seien aufgestachelt und verführt gewesen.

 

Das Gericht lehnte es ab, über politische Fragen zu diskutieren und beschränkte sich auf die Straftatbestände. Es bestritt den Angeklagten nicht das Recht der freien Meinungsäußerung, das Recht zu demonstrieren und das Recht ihre „politische Ideologie“ zu vertreten. Selbst die Forderung auf Selbstbestimmung und die Deklaration der Unabhängigkeit sei kein Delikt. Wofür das Gericht die Angeklagten verurteilte, waren im Endeffekt die „Delikte gegen die öffentliche Ordnung“, das bewußte und „hartnäckige“ Zuwiderhandeln gegen gerichtliche Urteile sowie die Verhinderung gerichtlich-polizeilicher Maßnahmen zum Vollzug der Gesetze und Urteile.

 

Innerhalb der spanischen Gesetzgebung und der Rechtsprechung lassen sich die Urteile und Strafmaße begründen. wenn sie auch nicht zwingend sind. Ob es angemessen war, die subjektiven Motive der Angeklagten, die geschichtlichen und politischen Hintergründe ihres Handelns und der Unabhängigkeitsbestrebungen in Katalonien bei der Urteilsfindung außer acht zu lassen, ist eine andere Frage. Hinter der Unabhängigkeitsbewegung steht ja eine lange Geschichte der Unterdrückung und Abwertung katalanischer Eigenständigkeit durch spanische Zentralregierungen. Das ist für das Handeln der katalanischen Politiker nicht unerheblich. Hierfür zeigte das Gericht keinerlei Verständnis.

 

Das Urteil

Die Angeklagten (Bild: Emilio Naranjo, AFP). Von rechts nach links: Junqueras, Romeva, Forn, Sànchez, Turull, Rull, Cuixart, Forcadell, Bassa, Mundó, Vila, Borrás
Die Angeklagten (Bild: Emilio Naranjo, AFP). Von rechts nach links: Junqueras, Romeva, Forn, Sànchez, Turull, Rull, Cuixart, Forcadell, Bassa, Mundó, Vila, Borrás

Das Gericht hat die Angeklagten von dem Vorwurf der „Rebellion“ und der "Bildung einer kriminellen Vereinigung" freigesprochen. Das war zu erwarten gewesen. Stattdessen wurden die neun inhaftierten Politiker und Unabhängigkeitsführer wegen „Aufruhrs“ verurteilt. Strafverschärfend kam bei vier von ihnen „die Veruntreuung“ hinzu. Die höchste Strafe erhielt Junqueras mit 13 Jahren Haft, die anderen wegen "Sedición" Verurteilten bekamen Haftstrafen zwischen 12 und 9 Jahren. Für die Zeit der Gefängnisstrafen wurde der Entzug der öffentlichen Ehren und Ämter und die Unfähigkeit solche zu bekleiden angeordnet. Die drei auf freiem Fuß befindlichen Angeklagten wurden zu Amtsunfähigkeit für ein Jahr und acht Monaten und Geldstrafen wegen "Ungehorsams" verurteilt. Vom Vorwurf der Veruntreuung öffentlicher Gelder "absolvierte" das Gericht sie. Bei den zu Gefängnis Verurteilten ging das Gericht über die von der Abogadia del Estado geforderten Strafmaße hinaus. Für die drei wegen „Ungehorsams“ Verurteilten hatte die Fiscala und die Abogadia sieben Jahre Gefängnis beantragt. Hier blieb das Gericht also weit unter dem geforderten Strafmaß. Die Kosten des Verfahrens wurden zum größten Teil den Verurteilten auferlegt und unter ihnen aufgeteilt.

 

Einspruch gegen das Urteil gibt es nicht, das Gericht ließ aber den Weg zum Verfassungsgericht Spaniens und zum Europäischen Gerichtshof offen. Ebenso schloss es – entgegen dem Antrag der Fiscalia - die Möglichkeit eines „Halbfreiheit“ nicht aus, bei dem die Inhaftierten bei guter Führung die Woche über im Gefängnis nur schlafen müssen und das Wochenende ganz bei ihren Familien verbringen können. Darüber werden die katalanischen Gefängnisbehörden entscheiden, in deren Haftanstalten die Verurteilten gebracht wurden (die Männer nach LLedoners/Provinz Barcelona, die Frauen in das neue Gefängnis „Puig de las Basses“ über Figueres). In den Gefängnissen leben die Verurteilten unter den gleichen Haftbedingungen wie die anderen Gefangenen.

 

Ein Gnadenerweis, den jeder spanische Staatsbürger beantragen und die spanische Regierung beschließen könnte, lehnte Ministerpräsident Sánchez ab, im Gegenteil, er garantierte die „absolute Erfüllung“ des Urteils. Auch die Verurteilten lehnen eine Begnadigung ab.

 

Protest gegen die Inhaftierung der Unabhängigkeitspolitiker vor dem geschlossenen katalanischen Parlament in Barcelona  2017 (Bild: W. Janzen)
Protest gegen die Inhaftierung der Unabhängigkeitspolitiker vor dem geschlossenen katalanischen Parlament in Barcelona 2017 (Bild: W. Janzen)

Ein Kommentar

 

Mit der Verurteilung wegen „Aufruhrs“ bezog sich das Gericht auf das spanische Strafgesetzbuch (Código Penal). Dort heißt es im Artikel 544/45:

 

"Schuldige des Aufruhrs sind diejenigen, die, ohne unter das Verbrechen der Rebellion fallen zu fallen, sich öffentlich und tumulthaft erheben, um durch Gewalt oder außerhalb der legalen Wege die Anwendung der Gesetze oder jede Behörde, eine amtliche Körperschaft oder einen öffentlich Beauftragten bei der rechtmäßigen Ausübung ihrer Aufgaben oder der Erfüllung ihrer Aufträge oder [oder den Vollzug von] Verwaltungs- oder Gerichtsentscheidungen zu hindern.".

 

„Diejenigen, die den Aufstand veranlasst, unterstützt oder geleitet haben oder in ihm als Haupttäter erschienen sind, werden mit Freiheitsstrafen von acht bis zehn Jahren, und zehn bis fünfzehn Jahren bestraft, wenn es sich um Amtspersonen handelt.“

 

Man mag dieses Gesetz für eine demokratische Gesellschaft problematisch finden. In Deutschland wurde der aus dem 19. Jahrhundert stammende Straftatbestand „Aufruhr“ (ehemalig § 115 RStGB) 1970 abgeschafft. (Inzwischen haben konservative spanische Politiker und Juristen die Aufnahme der Straftatbestände "Rebellion" und "Aufruhr" in das Europarecht gefordert - ein im Zusammenhang mit den separatistischen Tendenzen in Spanien durchsichtiges Verlangen!) Ein spanisches Gericht ist natürlich an das spanische Gesetz gebunden, aber seine Auslegungsbedürftigkeit bietet einen weiten Spielraum zugunsten oder zuungunsten von Angeklagten.

 

In Frankreich gibt im Code Pénal einen Abschnitt (412-4) zum „mouvement insurrectionnel“ (Aufstandsbewegung), bei der Beteiligung oder Führung sehr hart bestraft wird (15 Jahre bis lebenslange Haft und Geldstrafe). Die Aufstandsbewegung ist durch „kollektive“ Gewalttätigkeit gekennzeichnet, „die geeignet ist, staatliche Einrichtungen zu gefährden oder die Unversehrtheit des Staatsgebiets zu beeinträchtigen“. Hier wird aber im Gegensatz zum spanischen Gesetz die Gewalttätigkeit genauer definiert, etwa durch Bau von Barrikaden, Zerstörung von Gebäuden durch „offene“ Gewalt usw. Was „tumulthaft“ und „Gewalt“ im spanischen Gesetz heißt, ist unklar und öffnet das Tor zu weiten Auslegungen. Angesichts der in Hinsicht auf die Gewaltanwendung umstrittenen Ereignisse um das Referendum, hat das Gericht darauf zurückgegriffen, dass schon „Einschüchterung“ (Intimidación) Gewalt sei.

 

Eine solche Rechtskonstruktionen bestätigt den Eindruck, dass das Gericht nach Verurteilungsmöglichkeiten wegen „Aufruhrs“ gesucht hat. Der Verdacht einer  - ich drücke das einmal milde aus - „Praedisposition“ der Richter für das am Ende gefällte Urteil kann man zumindest vermuten.

 

Schon vor dem Urteil des TC hat eine Gruppe von 120 spanischen Rechtsprofessoren in einem Manifest von der „Banalisierung“ der „Rechtsfiguren“ „Rebellion“ und „Aufruhr“ gesprochen. Sie erklären:

 

„Wir glauben auch nicht, dass in diesem Falle das Delikt des `Aufruhrs` (Sedición) des Artikels 544 des spanischen Strafgesetzbuches vorliegt, da zu keinem Zeitpunkt ein Hinweis dafür erbracht wurde, dass die Angeklagten einen tumultartigen Aufstand veranlasst, provoziert oder durchgeführt hätten, um die Einhaltung des Gesetzes zu verhindern…Für die Staatsanwaltschaft liegt die Gefahr also in der Anstiftung zu Mobilisierungen, das heißt, sie macht die Ausübung der Grundrechte zu einem Verbrechen."

(https://www.peticion.es/la_banalizacion_de_los_delitos_de_rebelion_y_sedicion)

 

Das Gericht hat die Berufung der Angeklagten und ihrer Verteidiger auf Grundrechte und verschiedene Prozessrechte abgelehnt. In der Urteilsbegründung werden die Ablehnungen ausführlich begründet. Aber diese international und auch im spanischen Rechtswesen anerkannten Rechte sind auslegungsbedürftig und werden unterschiedlich ausgelegt.

 

Diese Rechte sind niedergelegt in der „Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte“, dem „Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte“ ("Zivilpakt") der Vereinten Nationen und  der „Europäischen Menschenrechtskommission“.

 

Im „Zivilpakt“ heißt es im Artikel 1:

 

„Alle Völker haben das Recht auf Selbstbestimmung. Kraft dieses Rechts entscheiden sie frei über ihren politischen Status und gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung… Die Vertragsstaaten…haben   entsprechend   den Bestimmungen   der   Charta   der   Vereinten   Nationen   die   Verwirklichung   des   Rechts   auf Selbstbestimmung zu fördern und dieses Recht zu achten.“

 

In Sinne der im "Zivilpakt" festgelegten Rechte hat offenbar eine "Working Group on arbitrary Detention", eine Gruppe von Menschenrechtsexperten der UN,  die Festnahme von Junqueras, Cuixart und Sànchez kritisiert und ihre Freilassung und Entschädigung "in Übereinstimmung mit dem internationalen Recht" gefordert. In dem am 25. April 2019 verabschiedeten "Report" fordern die Experten sogar "angemessene Maßnahmen gegen die Verantwortlichen der Verletzung der Rechte" der Festgenommenen.

 

Ohne näher darauf einzugehen, kann man sagen, dass jedes der versagten Rechte auch anders und zugunsten der Angeklagten hätte ausgelegt werden können. Aber ein Gericht wie das TS hat eben immer recht – qua Einrichtung! Man kann allerdings dem Gericht zugute halten, dass die Rechtsauslegung durch vorgegebene Gesetze und die Rechtstradition in Spanien sehr eng und die Rechtsprechung rigide ist.

 

Das betrifft auch die Strafen. Spanien hat in den letzten Jahren die Strafmaße in der Gesetzgebung immer mehr erhöht. Trotzdem wären auch innerhalb des Rechtsrahmens, in dem sich das Gericht bewegte, mildere Strafen möglich gewesen. Angesichts der umstrittenen und unklaren Erhebungen zu den Straftatbeständen, wäre es vertretbar gewesen, alle Urteile auf „Ungehorsam“ zu reduzieren, wie es die Verteidigung forderte. Damit hätte man dem Recht Genüge getan.

 

So wunderte es nicht, dass Kritiker davon sprachen, dass hier „ein Exempel“ der Abschreckung an einigen Herausgehobenen statuiert wurde. Das Urteil hat gewählte Politiker und mit ihnen verbundene Bürger, die ihren Idealen folgten – sie muss man nicht teilen - und als Menschen ehrenwert sind, kriminalisiert. Der Weg, den sie verfolgten, mag ein Irrweg gewesen sein, aber es war kein krimineller Weg. Im Strafmaß hat das Gericht sie mit Totschlägern und Schwerkriminellen gleichgestellt. Unter diesen Gesichtspunkten entbehrt das Urteil über die Hauptangeklagten der „Verhältnismäßigkeit“. Sie sollte ein Grundsatz jeder demokratischen Rechtsprechung sein.

 

Das Gericht hat die politischen Umstände, in denen sich der Prozess bewegte, außen vor gelassen und sich auf die Anwendung formalen Rechts beschränkt. Damit wusste es sich vom spanischen Staat, seinen Regierungen und von weiten Teilen der spanischen Öffentlichkeit gedeckt. Die spanische Regierung unter Rajoy hat jeden Dialog mit den katalanischen Vertretungen verweigert und sich dabei auf Rechtspositionen berufen. Die sozialistische Regierung hat diesen Weg bisher fortgesetzt. Damit haben die spanischen Regierungen die Gegensätze verstärkt und nichts zu ihrem Ausgleich beigetragen. Es soll nicht unterschlagen werden, dass die katalanischen Regierungen durch ihren unrealistischen Kurs das Auseinanderdriften verschärft haben. In ihrer Verantwortung wäre es gelegen, die Widerstände einzuschätzen, und zu berücksichtigen, dass die Hälfte der Bürger Kataloniens ihre Vorstellung von der Unabhängigkeit nicht teilen. Allen Verboten und Einwänden Zentralspaniens zum Trotz: nur ein unter normalen und geregelten Bedingungen abgehaltenes Referendum in Katalonien kann Klarheit bringen, was die Katalanen wünschen. Hätte man dies rechtzeitig zugelassen – und nach spanischem Recht wäre das möglich gewesen (Ley Orgánica 2/1980) - dann wäre die heutige Eskalation wohl unterblieben.

 

Man kann nicht ausblenden, dass hinter der Unabhängigkeitsbewegung Kataloniens  nicht nur einige „Rädelsführer“ stehen, die man verurteilen und in die Gefängnisse abschieben kann, sondern Millionen von  Menschen. Sie werden nicht aufhören für ihre Vision von einem freien und sozialen Katalonien einzustehen. Durch Gerichtsurteile ist diese Bewegung nicht zu stoppen und die Krise kann nicht durch Berufung auf Rechtspositionen gelöst werden. „Erst das Recht und dann der Dialog“ - das ist keine Basis mehr für das Zusammenfinden beider Seiten.

 

Die Richter hätten gut daran getan, zu berücksichtigen in welcher brisanten Situation sie ihr Urteil fällten. Ob sie es wollten oder nicht, in dieser Situation wurde es zu einem politischen Urteil.

 

Eine ausführliche Dokumentation des Prozesses (in spanischer Sprache) hat die Tageszeitung "El País" vorgenommen: https://elpais.com/tag/juicio_proces/a

 

Ein wenig von den Ursprüngen der "Unterdrückungsgeschichte" Kataloniens berichtet der Aufsatz:

Ein designierter spanischer König reist durch Deutschland – Karl III. auf dem Weg nach Spanien (1703)

- auch hier im Blog

 

Vgl. auch:

Die Katalanen – eine Nation? Grundlegendes über Katalonien für Gäste

- hier unter "Katalonien".

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