Der Wolf in Katalonien – Mythen und Realität

Kehrt der Wolf nach Katalonien zurück - und wie kann Mensch und Wolf zusammenleben?

Soll der Rückkehrer in unsere Natur wieder verschwinden oder darf er seiner Wege gehen? (Bild: Poster unbekannter Herkunft)
Soll der Rückkehrer in unsere Natur wieder verschwinden oder darf er seiner Wege gehen? (Bild: Poster unbekannter Herkunft)

Dieser Aufsatz wurde 2013 in der „Arena“ (Zeitung für Deutsche an der Costa Brava) nach einigen Wolfssichtungen veröffentlicht. Was ist inzwischen geschehen? So ganz ist der Wolf in Katalonien immer noch nicht angekommen. Es gibt nach Angaben katalanischer Regierungsbeauftragter und des Projektes "LoupO" auf dem Gebiet des heutigen Kataloniens derzeit (2022) nur 4 bis 5 sicher festgestellte Exemplare in Gebirgsgegenden, alles männliche Tiere, also keine sich reproduzierende Rudel. Wahrscheinlich leben aber seit einigen Jahren weit mehr Wölfe in abgelegenen Gegenden (Cadí-Moixero, Ripollès, Moianès, Alta Ribagorça, Vall D´Aran,  Baixa Cerdanya, Grenzgebiete zu Frankreich und Andorra sowie französische Teile Kataloniens/Canigó/Alta Cerdanya). Vor allem in den französisch-spanisch-andorranischen Pyrenäen wurden Wölfe gesichtet. Man rechnet mit weiteren Einwanderungen und einer damit verbundenen Ausbreitung. Trotz der geringen Zahl der nachgewiesenen Tiere wogt der Streit zwischen Viehzüchtern, Jägern und Naturschützern heftig hin und her, wie in deutschen Ländern. Konservative und rechte Parteien (PP, Vox) stellen sich an die Seite der Wolfsgegner. Der Wolf wird so zum unfreiwilligen "Wahlhelfer" dieser Parteien.

 

Eigentlich - so könnte man sagen - hat der Wolf "das Recht" wieder in die Habitate einzuwandern, in denen seine Sippe schon früher lebte. Ob er nun dieses "Recht" hat oder nicht, er kümmert sich nicht darum, sondern tut es einfach. Tatsächlich hat er aber dieses Recht, europaweit und nun auch in Spanien.

 

Die linke Mehrheit in den spanischen Parlamentsgremien hat 2021 den Wolf unter Schutz gestellt (BOE 226, 21/09/2021), entsprechend den EU-Vorgaben. Nun darf in ganz Spanien der Wolf nicht mehr gejagt werden. Einzelne Tiere können mit amtlicher Genehmigung „entnommen“ (getötet/gefangen) werden, ohne dass dabei die Erhaltung der Art gefährdet werden darf. Den Autonomieregierungen wurde auferlegt, für Schutzmaßnahmen sowohl für Wolf als auch für Herdentiere zu sorgen und Kompensationen für geschädigte Viehzüchter bereit zu stellen. Im Gegensatz zu Autonomiegebieten, in denen es sehr viel mehr Wölfe als in Katalonien gibt (wie Castillia-Leon, Galicien, Asturien, Cantabrien), hat die katalanische Provinzialregierung die Wiederkehr und die Erhaltung der Wölfe befürwortet. Sie versucht eine vermittelnde Strategie zwischen Wolfs- und Herdenschutz einzunehmen. (Gencat, Medio ambiente i Sostenibilitat, Lobo)

 

Angesichts der Diskussion um das Wiederauftreten des Wolfs in Katalonien und in Deutschland ist mein Aufsatz nach wie vor aktuell, zumal ich mich dem Thema kulturhistorisch nähere und somit Gründe für den „Wolfshass“ in den Blick kommen, die ähnlich auch für Deutschland gelten. An einigen Stellen habe ich die frühere Fassung überarbeitet und ergänzt.


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Verteilung der Wolfspopulation (Sichtungen) in der autonomen Gemeinschaft Catalunya (Karte: Gencat, Medio Ambiente y Sostenibilitat, Lobo)

Der Abgesang auf den Wolf war verfrüht

 

Hirtenszene  (1. Hälfte des 19. Jh.) - Aus: Joan Amades, Costumari Català
Hirtenszene (1. Hälfte des 19. Jh.) - Aus: Joan Amades, Costumari Català

In seinem Werk „Costumari Català“ („Katalanische Bräuche“/1950-56) hatte der bedeutende katalanische Volkskundler Joan Amades auch die im Volke umherlaufenden Geschichten über Wölfe und die mit ihnen zusammenhängenden Bräuche gesammelt und beschrieben.

2004 veröffentlichte der katalanische Schriftsteller und Direktor des „Centro de Historia Contemporanea“, Albert Manent, sein Buch über den Wolf in Katalonien: „El Llobo a Catalunya, memoria, llegenda, historia“. Diese Bücher sollten ein Abgesang auf ein Tier sein, das das Leben der Landbewohner Kataloniens geprägt hat und dessen zwei letzte Exemplare 1935 in der Terra Alta (Tarragona) erlegt wurden. Wenn ein geschichtliches Phänomen verschwunden ist, treten die Historiker auf den Plan.

 

Doch zur selben Zeit, als das Buch von Manent erschien, kamen Pressemeldungen, die fragten: „Kehrt der Wolf wieder nach Katalonien zurück?“

 

Hierzu ein eigenes Erlebnis: Im Herbst 2004 unternahm ich eine Wanderung in die Alberes, [östlichster Ausläufer der Pyrenäen] begleitet von meinem Hund. Ich begann die Wanderung hinter Garriguella. Sie führte mich in eine waldige und einsame Gegend. Auf der Suche nach einem Dolmen kämpften wir uns an einem Bergabhang durch das Unterholz. Auf einer kleinen freien Fläche stießen wir auf die Reste eines gerissenen Damhirsches. Abgenagte Knochen lagen verstreut umher. Ich wollte mich interessiert nähern, als mein Hund plötzlich erstarrte und nicht mehr zu bewegen war weiter zu gehen. Seine Nackenhaare hatten sich gesträubt und er fixierte einen Punkt im Gebüsch. Ich blickte auch dorthin und sah ein Tier, schäferhundgroß, gelblich-graue Farbe, die Rute gesenkt. Das Tier beobachtete uns reglos eine Weile, dann verdrückte es sich lautlos tiefer ins dichte Gebüsch. Auch wir zogen uns vorsichtig zurück.

Hatten wir einen Wolf gesehen – das war mein Eindruck – oder war es ein verwilderter Hund? Auffällig war, dass mein Hund sich anders verhielt, als bei der Begegnung mit umherstreunenden Hunden. In diesem Fall zeigte mein Hund – spanischer Herkunft – nie Angst, sondern versuchte Kontakt aufzunehmen. Aber auch die wilden Hunde reagierten bei solchen Begegnungen anders als dieses Tier.

 

Ein am 21.09.2022 aufgenommener Wolf in den Alberes  (Bild: Departamento de Acció Climática, Alimentació y Agenda Rural )
Ein am 21.09.2022 aufgenommener Wolf in den Alberes (Bild: Departamento de Acció Climática, Alimentació y Agenda Rural )

Einige Zeit später lass ich in einer regionalen Zeitung, dass man Wolfsspuren in den Alberes gefunden habe. Noch etwas später kamen Berichte, dass Wölfe in den Pyrenäen, im Naturschutzgebiet Parc Natural del Cadí-Moixera, aufgetaucht seien. Sie hätten auch Vieh gerissen, Kälber, Schafe. Es stellte sich heraus, dass auch schon in den Jahren vorher vereinzelte Wölfe in den katalanischen Pyrenäen aufgetaucht sind. Agents Rurals, Funktionäre der Generalitat, bestätigten die Anwesenheit von Wölfen. Inzwischen gibt es in den genannten Gegenden kleine Wolfspopulationen. Auch eine einsam lebende Bewohnerin des Moianès erzählte mir vom nächtlichen Heulen und Umherstreifen von Wölfen. Die Regierung wolle das nicht wahrhaben, aber es sei so, sagten sie.  Ebenso sprachen Jäger im Alt Empordà von Wölfen, die manchmal den im Herbst von den Bergen kommenden Wildschweinen folgten (sie waren sofort bereit, einen Wolf, der ihnen vor die Flinte komme, als „schädliches“ Tier zu erschießen).

 

Der Wolf darf in Katalonien nicht gejagt werden, außer es gäbe eine größere Interessenkollision zwischen Mensch und Tier, er wurde aber nicht in die Liste der zu schützenden und wieder einzugliedernden Tiere aufgenommen [was inzwischen geschehen ist]. Man duldet ihn offiziell und entschädigt die Viehhalter bei nachweisbaren Wolfschäden.

 

Können Wolf und Mensch zusammenleben?

 

Bei der Bevölkerung in den Bergregionen, vor allem bei den Viehzüchtern und Hirten, hat die Anwesenheit von Wölfen unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen. Alte Erinnerungen von der Bedrohlichkeit des Wolfes wurden wach, andererseits sieht man, dass sich Verhältnisse und Einstellungen gewandelt haben. Manche Bauern und Hirten besinnen sich darauf, ihre Herden mit Methoden zu schützen, die den Tod des Wolfes nicht nötig machen. Nach Meinung von Naturschützern stellt die Wiederkehr des Wolfes eine Bereicherung der Fauna dar, Wolf und Mensch könnten bei entsprechenden Maßnahmen gut zusammenleben.

Wolfskind und Menschenkind (Aus dem Film "Wolfsbrüder", 2010)
Wolfskind und Menschenkind (Aus dem Film "Wolfsbrüder", 2010)

Die Anwesenheit von Wölfen stellt unser Verhältnis zur Natur auf die Probe. Sind wir bereit, diesem Tier, das ursprünglich zu unserer Fauna gehört, ein Lebens- und Eigenrecht einzuräumen? Oder sehen wir Naturräume nur als Nutzfläche für agrarische Zwecke, waldwirtschaftliche Rendite, als Reservoir für Bebauung, Wege- und Straßenprojekte an? Hat die Forderung nach Ausmerzung von nicht domestizierten Raubtieren wie Wolf, Bär, Luchs damit zu tun, dass sie die „Ordnung“ unserer auf ökonomischen und zivilisatorischen Regelungen ausgerichteten Welt stören? Kann man nicht lernen, mit ihnen zu leben und sie als Bereicherung unserer Lebenswelt anzusehen, als Möglichkeit für die Rückkehr zu einer stärker ökologisch ausgerichteten Umwelt, in der wieder mehr Artenvielfalt möglich ist? Der Wolf ist kein Einzelfall, mit ihm geht es auch darum, ob wir die Rückkehr anderer Tierarten ermöglichen, die früher zu unserer Natur gehörten, Elch, Wisent und andere, kurzum Biodiversität, in der eine natürliche Regulation des Wildtierbestandes stattfindet.

 

Muss man die Rückkehr und den Bestand dieser Tiere überhaupt „managen“, regulieren“? Würde man ihnen den notwendigen Lebensraum mit seinen natürlichen Nahrungsgrundlagen überlasssen, dann ließe sich menschliches Eingreifen reduzieren. Wolfsforschung hat erbracht, dass diese Spezies sich auf Grund ihrer Revierbindung selbst reguliert. Aktives Eingreifen ist wahrscheinlich nur in bestimmtem Zonen notwendig. Management sollte vor allem darin bestehen, die Koexistenz zwischen Menschen und Wölfen zu ermöglichen. Wenn Wölfe wegen Mangel an wild lebenden Beutetieren oder weil Nutztiere leichter zu erbeuten sind, auf diese übergreifen, kann das durch geeignete Schutzmaßnahmen verhindert werden. Länder wie Italien oder Kroatien, in denen Mensch schon länger mit Wölfen und auch Bären leben, zeigen, dass  dies möglich ist.

 

Dies geschieht durch Mediation zwischen den beteiligten Gruppen, mittels Maßnahmen wie Elektrozäune und Schutzhunde – die von der Regierung finanziert werden – sowie mit Kompensation von Schäden. Einfachere und kostengünstigere, aber manchmal ausreichende Maßnahmen sind Abschreckungsmethoden und nächtliche Unterbringung der Weidetiere in meist schon vorhandenen Ställen.

 

Wie ich in Kroatien durch Gespräche und Beobachtungen erfahren habe, geht man dort viel gelassener mit der Anwesenheit von Wölfen und Bären um als in Spanien und Deutschland. Ein Großteil der Argumente, die gegen die Rückkehr der Wölfe oder gegen Schutzmaßnahmen für Nutztiere angeführt werden, sind übertrieben oder nichtzutreffend.

 

Es ist eine Sache der Einstellung; wenn man den Wolf nicht will, stellt man sich auch nicht auf Maßnahmen ein, die das Zusammenleben möglich machen. Da drängt sich der Eindruck auf, nicht die Wölfe sind das Problem, sondern die Wolfsgegner.

Der iberische Wolf – eine Unterart des Wolfes

 

Die neuen Wölfe Kataloniens sind Immigranten. Sie gehören der Unterart canis lupus italicus an und stammen ursprünglich aus den Abruzzen. Von dort sind sie über die Alpen und Frankreich nach Katalonien gewandert. Das ist die Meinung von Naturkundlern – obwohl unter pyrenäischen Viehhaltern die Meinung verbreitet ist, die Generalitat [katalanische Autonomieregierung] habe sie heimlich eingesetzt.

 

Der in Spanien und früher auch in Katalonien heimische Wolf ist der Iberische Wolf, canis lupus signatus – genannt nach seiner weißen Zeichnung an der Unterschnauze und schwarzen Streifen über Rücken, Schwanz und Läufe. Heute schätzt man seine Population auf ca. 1500 - 2000 Exemplare, die hauptsächlich im Nordwesten Spaniens, aber auch Portugals, leben, in Galizien, Kastilien und Leon, Asturien. Hier ist der Bestand sehr durch illegale und legale Abschüsse, Giftköder, aber auch durch den Verkehr, bedroht. Am dichtesten ist die Wolfpopulation im Naturschutzgebiet der Sierra de la Culebra (Zamora). Es gab übrigens auch noch einen Spanischen Wolf, canis lupus deitanus, den Angel Cabrera in seiner grundlegenden Schrift  „Los Lobos de Espagna“ 1907 beschrieben hat. Cabrera hat ihn wohl noch in der Gegend von Murcia erlebt, heute ist er ausgestorben.

Iberische Wölfe - Extremtypen: links nördlicher, rechts südlicher Typ (Bildquelle: Pinterest)
Iberische Wölfe - Extremtypen: links nördlicher, rechts südlicher Typ (Bildquelle: Pinterest)
Iberische Wölfe im Mollò Parc  (Ripollès)
Iberische Wölfe im Mollò Parc (Ripollès)

Neuerdings scheint es aber nicht nur den Zuzug von Wölfen nach Katalonien über die französischen Küstengebirge und Garrigues zu geben, sondern auch vom Nordwesten Spaniens über die pyrenäische (Vor-)Gebirgslinie. 2008 wurde in der Cerdanya ein Iberischer Wolf gesichtet. Auch am Canigó fand man Spuren dieser ursprünglich hier heimischen Art.

 

Inzwischen gibt es einen regelrechten „Wolftourismus“ in die Sierra de Culebra (der von Naturschützern mit Argwohn betrachtet wird). In unserem Bereich führt Galanthus in Celra solche Wolfsexkursionen durch. Unter den touristischen Nutznießern in Zamora ist der Spruch „Ein lebender Wolf ist besser als ein toter“ (in Umkehrung des früheren Wortes) zum Schlagwort geworden. Die Provinzialregierung von Castilla y Leon verkauft eine begrenzte Zahl von Abschüssen an reiche Jäger, für 8000-9000 Euro [was nun verboten ist]. Jeder lebende Wolf bringt aber weit mehr an Einnahmen durch Touristen als durch den Abschussverkauf..

 

Naturkundler prognostizieren, dass in 10 Jahren der Wolf wieder in den katalanischen Pyrenäen und den Vorgebirgen verbreitet sein wird. Ob dann unsere Wandergruppen in den Alberes wieder Wölfe heulen hören oder gar sichten werden? Vielleicht führe ich dann neben „Kulturspaziergängen“ auch Wolfsexkursionen durch. A ver… [Soweit ist es nicht gekommen, siehe oben.]

 

Der Wolf im Empordà – Geschichte und Geschichten

 

Im 19. Jahrhundert war der Wolf in den weniger besiedelten und waldreichen Gebieten unserer Region, dem Empordà, noch weit verbreitet. Die Gebirgszüge der Sierra de L´Albera, der Gavarres (zwischen Bisbal und Girona), in der Comarca La Selva, des Montseny (weiter südlich) und natürlich die Pyrenäen waren die Rückzugsgebiete.  

 

Der letzte Einfall von Wölfen in den Bergen über Roses (Costa Brava) geschah 1850 – in einem äußerst kalten Winter. Nach dem Bericht eines Korrespondenten der „Gaceta de Madrid“ übersprangen die Tiere die Steinwälle, die die Schafherden der Gehöfte Llovatera und Baltra umschlossen  und richteten unter den Augen der hilflosen Bewohner und ihrer Hunde Verheerungen unter dem Viehbestand an. In den Alberes wurde der letzte Wolf 1905 erlegt, zwischen 1910-20 in La Selva, 1926 bei Prades in den nordkatalanischen Pyrenäen.

 

Ortsbezeichnungen zeigen an, wo man Wölfe antraf. In Cantallops am Fuße der Sierra de L'Albera – wörtlich: wo der Wolf singt – hörte man des Nachts das Heulen der Wölfe in den Häusern. Auch im Ortswappen findet sich ein stilisierter Wolf. Über Roses und dem nahe gelegenen Vilajuïga gibt es caus de llops – Wolfshöhlen. Bei Sant Climent Sescebes, unweit von Figueres, die Serra Llovera (Llovera ist der Aufenthaltsort von Wölfen), über Colera, einem Küstenort am Ostabhang der Alberes, den Puig (Gipfel) del Llop, den Coll (Pass) del Llob, bei Espolla, an den südlichen Ausläufern der Alberes, die Font Llovera (Wolfsbrunnen) usw.

 

An manche dieser Orte knüpfen sich volkstümliche Erzählungen. Über Pau (nahe Roses) gibt es ein „Weißes Kreuz“. Der Sage nach soll dort ein Abgesandter des Klosters Sant Pere de Roda durch Wölfe umgekommen sein. Auch bei Sant Sadurni (bei Bisbal) an der Nordseite der Gavarres gibt es eine Säule mit Kreuz. Sie erinnert an einen Musiker, der einem Wolf entkam.

 

Der Mann kehrte mit seinem Instrument, einer Violine, von einer Veranstaltung in den Häusern von Montnegre in der Dunkelheit zurück. Ein großer Wolf folgte ihm und stellte sich ihm in den Weg. Der Musiker kletterte auf eine Korkeiche. Dabei blieb eine Saite seiner Violine an einem Ast hängen und riss mit einem scharfen Laut. Dies erschreckte den Wolf so, dass er flüchtete. Der Ort heißt seitdem Salt del Llop, Sprung des Wolfes.

 

Natürlich gab es den Wolf im Mittelalter – aber es wird wenig von Konflikten mit ihm berichtet. Offenbar fand er noch genügend Nahrung außerhalb der menschlichen Siedlungsgebiete. Man hatte Furcht vor ihm und ging ihm aus dem Weg. Ausdruck des Schreckens, der die Menschen vor den wilden Tieren des Waldes ergriff, sind die oft Menschen verschlingenden Simiots, Untiere, an den Portalen der romanischen Kirchen.

 

König Joan I., genannt El Cacador (der Jäger), soll 1396 auf der Jagd bei der Begegnung mit einer Wölfin umgekommen sein. Unterhalb des Schlosses von Foixa (Baix Empordà), in einem Baum umstandenen Hohlweg, stieß der König auf eine riesige Wölfin. Trotz des Rufes des Königs „Auf die Wölfin!“ wagten dies weder die Hunde noch das Gefolge. Der König fiel (vor Schrecken?) vom Pferd und starb an den Folgen des Sturzes. (So die „offizielle“ Darstellung, andere sagten freilich, der König sei von Mitgliedern seines Hofes ermordet worden). Ein Kreuz erinnert dort an den Tod des Herrschers.

 

Gedenkreuz an König Joan I. bei Foixa
Gedenkreuz an König Joan I. bei Foixa

Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts häufen sich die Berichte über Wölfe und ihre Übergriffe. Die land- und weidewirtschaftlichen Flächen und ihre Nutzung hatten zugenommen, der Wald und die natürlichen Beutetiere des Wolfes abgenommen. So griff der Wolf notgedrungen auf die menschlichen Siedlungsgebiete über und suchte sich Beute unter den Weidetieren. In den napoleonischen Kriegen gab es viele Verwundete und Tote, die in Wälder und auf Feldern liegen blieben und Wölfen zum Opfer fielen. So mag sich auch die natürliche Scheu der Tiere vor Menschen verringert haben.  Auf königliche und behördliche Anordnungen wurden große Wolfsjagden veranstaltet, die auf die Ausrottung des Wolfes abzielten. Sie erwiesen sich als kostspielig und wenig effektiv. Man behielt jedoch die amtlichen Prämien bei, die für einen getöteten Wolf gezahlt wurden. Es gab Landbewohner, die sich darauf spezialisierten und damit ein gutes Zubrot verdienten. So lieferte ein „Landarbeiter“, Josep Salvatella aus Rafart/Celra, von 1832-40 den Behörden von Girona sieben tote Wölfe aus, darunter Wölfinnen – wofür es eine höhere Prämie gab – und ein Wolfsjunges, die er in der Nähe der Stadt  erlegt hatte, Zeichen dafür, dass die Tiere bis an die Städte kamen und sich dort auch vermehrten.

 

Wahrscheinlich konnte man damals nachts durchaus einen Wolf durch Girona schleichen sehen - auf der Suche nach Nahrung. Eine Erinnerung daran ist die „Legende“ von der Prozession durch die „Wolfsgasse“, in die sich ein Wolf gemischt haben soll, der dann ein kleines Mädchen ergriff und fortschleppte. 1904 wurde übrigens der Carrer de Llop in Pujada Rei Marti umbenannt – man wollte wohl die Erinnerung an den wilden und übel beleumundeten „König der Wälder“ austilgen und durch das Gedenken an einen menschlichen König (Marti, El Huma) ersetzen. Auch das Original des in der Straße befindliche Reliefs aus dem 12. Jahrhundert, welches ein wolfsähnliches Ungeheuer zeigt, das einen Menschen überwältigt (gemeint war wohl ein Löwe), befindet sich heute im Kunstmuseum.

 

Carrer de Llop, Girona, Wandfries (heute im Kunstmuseum)
Carrer de Llop, Girona, Wandfries (heute im Kunstmuseum)

Man fing die Wölfe in Gruben oder Fangeisen. Die Gruben waren mit Reisig bedeckt und oft mit einem Köder versehen. Häufig trieb man die Wölfe durch enge Fels- oder anderweitig hergestellte Korridore. Den gefangenen Wolf tötete man mit Steinen oder Stockschlägen. Der Wolf wurde ausgeweidet und mit Stroh gefüllt (erinnert an das Märchen von „Rotkäppchen“!). Manche Innereien wie das Herz galten als heilkräftig. Man brachte den Wolf ins Dorf, wo man ihn auf dem Hauptplatz ausstellte. Wieder schlug man auf den verhassten Feind mit Stöcken ein oder warf mit Steinen auf ihn.

Der Wolfsfänger erhielt in den Häusern Gaben. Dann schnitt man dem Tier Pfoten, Ohren, den Kopf ab oder zog ihm das Fell vom Körper. Diese Teile präsentierte der Wolfsfänger den Behörden und kassierte so noch einmal eine Belohnung. Ab Ende des 19. Jahrhunderts vergiftete man die Wölfe mit Strichnin-Ködern.

 

Die Feindschaft zwischen Wolf und Mensch - und wie man den Wolf abwehrte

 

Mit der Sesshaftwerdung des Menschen und der damit verbundenen Viehhaltung und Weidewirtschaft entstand eine Erzfeindschaft zwischen Mensch und Wolf. Insbesondere für Hirten war der Wolf ein Feind.  Aufschluss über Schäden, die der Wolf noch Ende des 19. Jahrhundert an den Herden des Empordà anrichtete und die Bedrohung, die er für diese darstellte, geben Berichte des katalanischen Schriftstellers Carles Bosch de la Trinxera (1831-1897, gest. in Jonquera). Er beschreibt in seinen Jagd- und Wanderberichten (Records d´un excursionista 1887/De ma collita, 1890) den sommerlichen Zug der Hirten (Transmigration) in die Almen der Pyrenäen des Ripollès. Beim Auf- und Abzug zählten die Karabiner von Setcases die Zahl der Tiere. Die Hirten präsentierten beim Abgang die Felle der von Wölfen gerissenen Schafe und die Zöllner machten regelmäßig „große Augen“ über deren Zahl. Man muss freilich fragen, ob diese Verluste allein auf das Konto der Wölfe gingen.

 

Bosch de la Trinxera erzählt auch von einer Wildschweinjagd in der Gegend des hoch gelegenen Schlosses von Requesens (in den Alberes an der Grenze zu Frankreich). Nach ihm gab es dieses Tier damals in Katalonien nur noch in den dichten Wäldern um Requesens. Er berichtet, dass die Wölfe in kalten Wintern von den Bergen kamen, um Wildschweine zu jagen. Es muss sie aber nur noch selten gegeben haben, denn bei der Wildschweinjagd gibt es die Anweisung, dass die Wölfe verschont bleiben sollen.

 

Wölfe greifen einen Wildschweineber  an - im Wald von Requesens?  (Stich 1884)
Wölfe greifen einen Wildschweineber an - im Wald von Requesens? (Stich 1884)

Die Hirten wehrten die Wölfe mit großen Hunden ab, den Mastins (Pyrenäenhunde, Mastín de Pirineo oder Mastín Español) Diese trugen zum Schutz gegen die Bisse der Wölfe breite Stachelhalsbänder. Zum Hüten der Herden wurden übrigens andere Hunde verwendet, die Gossos D´Atura, die katalanischen Hütehunde. Unser jetziger Hund ist eines dieser intelligenten Tiere. Sie sind die einzigen Hunde, die eigenen Entscheidungen treffen. [Inzwischen ist unser geliebter „Fritz“ verstorben.]  

Man war auch der Meinung das Spielen der Hirtenflöte schrecke mit ihren schrillen Tönen die Wölfe ab. Überhaupt gibt es viele Erzählungen, in denen berichtet wird, dass Wölfe durch das Spielen von Instrumenten abgeschreckt oder bezähmt wurden. Das erinnert an den antiken Mythos von Orpheus, dem Hirten, der die wilden Tiere durch seinen Gesang und das Spiel der Harfe besänftigte

Links: Hirte mit Mastin in früheren Zeiten - Rechts: Gos D´Atura

Heutiger spanischer Hirte mit Stachelhalsband bewehrten Mastínes Españoles. Die Rasse gibt es seit dem 15. Jh. - Welcher Wolf wird sich mit diesen Kolossen anlegen wollen? (Bild: Manuel Calvo, The Objective)
Heutiger spanischer Hirte mit Stachelhalsband bewehrten Mastínes Españoles. Die Rasse gibt es seit dem 15. Jh. - Welcher Wolf wird sich mit diesen Kolossen anlegen wollen? (Bild: Manuel Calvo, The Objective)

Wenn nicht anderes half. griff man zur Magie

 

Wenn Hunde, Gruben und Stöcke nicht zu helfen schienen, griff man auch zu magischen Mitteln. Es gab extra einen Heiligen für diese Fälle, den Sant Llop. Bei Darnius (Alt Empordà) gibt es die Ermita Sant Esteve del Llop, wohin man wallfahrtete und den Heiligen um Schutz vor den Wölfen bat.

 

Kapelle Sant  Llop bei Darnius
Kapelle Sant Llop bei Darnius

Aus dem Gebiet von La Selva/Montseny wird folgende Geschichte erzählt:  

 

Ein Hirt von Sant Llop (Riells - Viabrea) wurde von einem Wolf angegriffen. Er wollte um Hilfe schreien, aber die Stimme versagte ihm. Einem anderen Mann, der ihn gestikulieren sah und ihm zu Hilfe eilte, versagte ebenfalls die Stimme. Beide sahen sich schon verloren, als die Glocke vom nahen Kirchlein Sant Llop ertönte und den „Zauber“ brach. Der Wolf enteilte in den Wald und der Hirt kehrte mit seiner Herde unbeschadet zu seiner Behausung zurück.

 

Die Hirten praktizierten auch sonderbare Gebräuche als Abwehrzauber, die man vor allem in der Johannisnacht anwandte. Dies sollte Schafe und Hunde das übrige Jahr vor den Angriffen von Wölfen schützen. Man kannte Beschwörungsformeln wie das „Vaterunser der Wölfe“. Einer dieser Formeln besagt, dass „unser Herr“ (Jesus) und Sankt Peter dem Wolf Lobas begegnen. Sie fragen ihn, wohin er gehe. Er antwortet: „Nach Aytal, um dort Fleisch zu fressen und Blut zu vergießen“. „Das tust du nicht“, sagt ihm „unser Herr“. „Geh auf die Weiden und in die Berge, um Gras und Kräuter zu fressen oder verschwinde im Meer, dass du hier keinen Schaden mehr anrichten kannst.“

 

Dies erinnert – mit Unterschieden - an den Heiligen Franziskus von Assisi, der nach der Legende dem "grimmen" Wolf von Gubbio unbewaffnet und furchtlos entgegentrat. Er spricht mit ihm und nennt ihn "Bruder":

 

"Komm zu mir Bruder Wolf! Im Namen Christi befehle ich dir, weder mir noch sonst jemanden einen Harm zu tun! ... Alle klagen mit Recht über dich, und die ganze Gegend ist dir Feind. Aber jetzt will ich zwischen dir und den Leuten Frieden machen." ("Fioretti di San Francesco")

 

Der Heilige hat nicht nur "Mitleid" mit den geschädigten, angsterfüllten und gewaltbereiten Leuten, sondern sieht auch die Bedürfnisse des Tieres, das sich ernähren muss. Er schließt einen Friedensvertrag zwischen dem Wolf und den Menschen von Gubbio, der beiden gerecht wird. Fortan überlassen die Leute dem Wolf die notwendige Nahrung. Dies hielt den Wolf ab, weiter unkontrollierten Schaden zu stiften und versöhnte die Menschen mit ihm.

 

"Frieden mit der Natur zu machen, dem Wolf in sich und um sich in die Augen schauen und ausbrechen aus der Spirale der Gewalt, das lehrt diese Legende. Wahrhaftig, eine bessere Alternative, als das ´Untier`zu töten."  (W. Janzen, La Arqueta, Kriminalroman, S. 172)

 

Dies macht Franziskus zum Patron und Vorbild der Naturschützer. Die Erzählung von Franziskus ist symbol- und gleichnishaft. Vielleicht wäre von seinem Umgang mit dem Symbolwolf auch zu lernen, wie in der Gegenwart mit leibhaftigen Wölfen umgegangen werden könnte. Wie ein solcher hypothetischer "Vertrag" zwischen Menschen und Wölfen heute aussehen könnte, davon später.

Bronzeskulptur des Franziskanerbruders Laurentius im Kloster Vossenak: Franziskus und der Wolf (Bild: Archiv Deutsche Franziskanerprovinz)
Bronzeskulptur des Franziskanerbruders Laurentius im Kloster Vossenak: Franziskus und der Wolf (Bild: Archiv Deutsche Franziskanerprovinz)

Im Zusammenhang der magischen Abwehr des Wolfes ist eine obskure Gestalt zu nennen, der Llobater oder Pare llob, der Wolfsbeschwörer. Es handelt sich um Menschen, die angeblich mit den Wölfen kommunizieren konnten. Sie setzten sich mit dem Anführer eines Wolfsrudels in Verbindung und hielten ihn davon ab, eine Herde zu attackieren. Dafür erhielten sie Gaben oder Geld. Es wird berichtet, dass ganze Herden von Eigentümern oder Hirten, die nicht zahlten, aufgerieben wurden. Es ist schwer zu entscheiden, ob es sich um Menschen mit besonderen Fähigkeiten handelte, oder um Erpresser, die sich den Aberglauben der Bevölkerung zu Nutze machten. Manchmal sollen sich diese Menschen zeitweilig auch in Wölfe verwandelt haben. Wir kommen damit in den Bereich des Mythos vom Wolfsmenschen.

 

Eine Wolfsfrau

 

Aus der Cerdanya stammt folgende Geschichte (Jordi Pere Cerda, La Dona Lloba, Contalles de Cerdanya, Barcelona 1961):

 

Ein reicher Viehherdeneigentümer war sehr hart zu seinen Hirten. Einem von diesen ging ein Schaf verloren. Der Eigentümer schickte ihn in die Nacht, um das Schaf zu suchen. Der Hirt stieß auf einen Wolf, der dabei war, das Schaf zu verzehren. Er wollte ihn töten, aber der Wolf sprach die klugen Worte: „Töte mich nicht. Ich bin dem Schaf ein Wolf, dein Herr ist dir ein Wolf und wenn du mich tötest, bist du mir ein Wolf.“ Er bot dem Hirten eine Kompensation an: drei Wolfspelze, einen vom Ende, einen von der Brust, einen vom Kopf eines Wolfes. Wenn der Hirt sich diese Pelze überstülpe, dann würde er zum Wolf werden. Dazu müsse er sprechen; „Raca de llop, Raca de ca, fes que torni el llop, Llob Llobarras – Art des Wolfes, Art des Hundes, mach, dass der Wolf zurückkehrt, Wolf Llobarras.!“ Um wieder Mensch zu werden, solle er einfach die Felle abziehen.

 

Der Hirte kehrt zu seinem Herrn zurück, der ihn halb totschlagen ließ. Sterbend vertraute er das Geheimnis seiner schönen und jungen Tochter an und nahm ihr das Versprechen ab sich zu rächen. In der Nacht verwandelte sich das Mädchen in eine Wölfin, die die Herden des Herrn heimsuchte. Da alle Mittel nichts gegen die nächtlichen Überfälle halfen, holte der Herr seinen Sohn aus der Stadt. Dieser verwundete die Wölfin und verfolgte sie bis zu ihrer Behausung. Dort fand er eine junge, schöne Frau schlafend vor. Drei Blutstropfen glitzerten an ihrer Ferse. Der junge Herr verliebte sich in die Hirtentochter und beide verbrachten glückliche Wochen in der Hütte. Aber dann wandelte die junge Frau wieder das Verlangen an zu rächen und zu töten. Sie entfernte sich nachts und setzte ihr Mordwerk an den Herden fort. Die Wolfsfrau war schwanger geworden und der junge Mann bat seinen Vater um Erlaubnis das Mädchen heiraten zu dürfen, was dieser ihm versagte. Inzwischen hatte der Sohn Verdacht geschöpft. Die Wölfin wurde gestellt und von Vater und Sohn schwer verwundet. Verzweifelt warf sich der Sohn über den Tierkörper, nannte ihn Geliebte und küsste die grässliche Schnauze. Man brachte die Wolfsfrau in die Küche des Hauses.

Unter den versteinerten Blicken der Anwesenden warf sich der Sohn wieder über die Wölfin und bat sie um Verzeihung. Bei der Wärme des Feuers und der Liebkosungen erwachte die Wölfin zum Leben. Mit Blicken bedeutete sie dem Geliebten, ihr die Felle abzuziehen.

Und siehe da: in voller menschlicher Schönheit lag sie wieder da, einige Blutstropfen auf ihrem Bauch und ein leuchtendes Kind zwischen ihren Beinen.

 

Wolfsfrau (Quelle: Pinterest)
Wolfsfrau (Quelle: Pinterest)

Der "böse" Wolf - stimmt das?

 

Der Wolf war eben nicht nur ein gewöhnliches Tier im Zyklus der Natur, sondern ein Wesen, das man im Laufe der Zeit mit dämonischen Zügen ausgestattet hatte. Zum einen war er ein Symbol für Wildheit und Ungebundenheit, die die Gesellschaft mit Argwohn betrachtete. Zum anderen brachte man den Wolf mit dem Bösen in Verbindung. Wölfe begleiten den dämonischen Grafen Arnau der katalanischen Mythologie auf seinem wilden Ritt der verdammten Seelen. Diese „Legenda negra“, die Aura des Unheimlichen, prägen die Mythen, Märchen und Erzählungen über den Wolf und trugen letztlich zu seiner unerbittlichen Verfolgung bei.

 

Der Wolf als Dämon (Quelle: Pinterest)
Der Wolf als Dämon (Quelle: Pinterest)
Auch hier - auf einem Plakat von (deutschen) Wolfsgegnern - die Dämonisierung des Tieres
Auch hier - auf einem Plakat von (deutschen) Wolfsgegnern - die Dämonisierung des Tieres

 

Wolfsforscher sind der Auffassung, dass die Gefährlichkeit des Wolfes, die ihm zugeschrieben wurde und wird, nicht der Realität entspricht.  Es gibt zwar viele Berichte, auch aus Katalonien, die von Attacken auf Menschen berichten. So spricht der Arzt B. Seudil aus Vilamajor 1825 im „Diario de Barcelona“ davon, dass in der Gegend des Montseny 8 Menschen durch Wölfe zu Tode gekommen seien (wohl hauptsächlich Kinder) und es eine Reihe von Verletzten gegeben habe. Der letzte tödliche Wolfsunfall in Spanien soll 1973 gewesen sein, wo in Galizien ein Kind einem Wolf zum Opfer fiel.

 

Es lässt sich aber nicht mehr feststellen, ob in all diesen Fällen wirklich Wölfe die Todesursache waren. Man war schnell bei der Hand, von der Tötung durch einen Wolf auszugehen, wenn ein Mensch verschwand oder Reste gefunden wurden. Dabei konnte es auch andere Ursachen geben: Verbrechen, Unfälle … wobei es dann möglich war, dass Wölfe oder andere Tiere sich über den Leichnam hermachten. Vieles, was man Wölfen zuschrieb, ist auf wilde Hunde zurückzuführen, die weniger Scheu vor dem Menschen haben als der Wolf. Das betrifft auch Herdenrisse. Es sind eher Hunde, die ein "Blutbad" in einer Herde anrichten als Wölfe.  Zumindest bei freilaufenden Nutztieren beschränken sich Wölfe meist auf das Ergreifen eines einzelnen Tieres, als dass sie die ganze Herde massakrieren.

Es ist unbestritten, dass Wölfe Nutztiere reißen, wenn sie die Gelegenheit dazu bekommen.  Dabei wird aber die Anzahl der Angriffe oft übertrieben oder überschätzt. Ziemlich sicher ist, dass in Europa die Zahlen der Attacken von Hunden die der Wölfe übersteigt. Gerade in Katalonien war es lange Zeit üblich, Hunde frei herumlaufen zu lassen oder Jagdhunde nach der Saison auszusetzen. (Heute ist das verboten, kommt aber trotzdem vor.) Diese Hunde bildeten Meuten, die die Gegenden beutesuchend durchstreiften.

Ein Schäfer erzählte mir, er habe nicht wegen der Wölfe, sondern wegen dieser Hunde neben seinen Hütehunden zwei große Mastins angeschafft.

 

Als ich mich näherte, lagen sie abseits der Herde herum und beachteten mich und meinen Hund (Gos D´Atura) nicht weiter, während die Gossos D´Atura des Schäfers ihre Aufgabe des Zusammenhaltens der Herde betrieben. Die sehr selbständig arbeitenden Mastíns wissen sehr wohl, wann ihr Eingreifen erforderlich ist und wann nicht. (Anders als bei meiner Annäherung dürfte es ausgehen, wenn ein Touri auf seinem Rad die Herde durchqueren will oder der disziplinlose Hund eines Spaziergängers kläffend in die Herde rennt.)

 

Schon wegen der Entschädigungen ist es oft das Interesse der Nutztierhalter von vorneherein dem Wolf Schäden zuzuschreiben, die möglicherweise von Hunden oder anderen Tieren angerichtet wurden.

 

Raubtiere, die außer dem Wolf für Herdentierrisse in Frage kommen, sind in Spanien: Füchse, Luchse, Bären; in Deutschland: Füchse, Luchse, Marderhunde, Goldschakale - für Schäden, die auf Wölfe, Luchse und Bären zurückgehen, gibt es in Spanien Kompensationen, in Deutschland für Wolfs- und Luchsschäden.

 

Vor dem Menschen hat der Wolf in der Regel eine Scheu und greift nur in Ausnahmesituationen an, etwa wenn er provoziert oder in die Enge getrieben wird. Dies kann auch der Fall sein, wenn er durch unbeabsichtigte oder beabsichtigte Fütterung die Scheu vor dem Menschen verloren hat. Die meisten der wenigen Wolfsangriffe auf Menschen in Europa und Nordamerika waren in der jüngeren Vergangenheit auf von Tollwut befallene Tiere zurückzuführen. Tollwut gibt es aber kaum mehr in Europa. Seit 2002 ist in Europa trotz der Zuname der Wölfe kein einziger tödlicher Angriff gemeldet worden, 7 weitere nicht tödliche Angriffe sind wohl auf Wölfe zurückzuführen, die aus den geannten Gründen die Scheu vor Menschen verloren hatten.

Wildschweine, die es in Katalonien in Massen gibt, sind gefährlicher als Wölfe (aber bei angemessenem Umgang mit ihnen - keine Annäherung, nicht füttern - lassen sich auch hier Angriffe vermeiden). Und sicherlich gibt es in Europa mehr Verletzungen und Todesfälle durch Hunde als durch Wölfe.

 

Der Wolf sollte weder dämonisiert noch verharmlost werden. Fakt ist: er ist ein wildes, prädatorisches Tier, bei Begegnunen ist Vorsicht und Respekt angebracht, wo Angriffe auf Nutztiere zu erwarten sind, sollten Schutzmaßnahmen ergriffen werden. Für Nutzierhalter sind Risse schmerzlich und wirtschaftlich nachteilig. Es ist verständlich, wenn die meisten lieber auf die Herausforderungen verzichten würden, die die Wiederkehr des Wolfes mit sich bringen.

Es ist aber nun einmal so, dass im Zuge einer veränderten Einstellung zum Natur- und Artenschutz auch dieses Tier eu-weit unter strengen Schutz gestellt ist. ("Berner Konvention" von 1979, ein völkerrechtlicher Vertrag "über die Erhaltung der europäischen wildlebenden Pflanzen und Tiere und ihrer natürlichen Lebensräume" / "Fauna-Flora-Habitat-Richtlinie von 1992.)

 

Im Manifest der Berner Konvention steht:

„Wölfe haben, wie alle anderen Wildtiere, ein Recht, als wildlebende Tiere zu existieren. […] dieses leitet sich aus dem Recht aller Lebewesen ab, mit dem Menschen als Teil natürlicher Ökosysteme zu koexistieren.“

 

Wenn Tierhalter angesichts der rechtlich bindenden Regelungen dieser Verträge in Bedrohungslagen es unterlassen, ihre Tiere angemessen zu schützen - noch dazu bei staatlicher Subventionierung der Maßnahmen - ist dies als leichtsinnig und nicht fürsorglich für ihre Tiere zu betrachten. Man sollte dann nicht eine wachsende Zahl von Wölfen für eine Zunahme von Tierrissen verantwortlich machen, sondern den mangelnden Herdenschutz der Halter.

 

Hin und wieder wird von Angriffen von Wölfen auf Hunde von Wanderern oder Spaziergängern berichtet. Auch hier ist meist mangelnde Fürsorge die Ursache. Man sollte Hunde nicht frei in Wolfsgebieten herumstreifen lassen. Wölfe werden sie - wenn nicht als Beutetiere - als Eindringlinge in ihr Revier betrachten. Aber auch hier gilt: es werden weitaus mehr Hunde durch andere verletzt oder getötet als durch Wölfe.

 

Ein Wolf verhält sich gemäß seiner Art, entsprechend seiner Genetik, seinen Instinkten, seinen Prägungen und Erfahrungen. Wenn er Nahrung benötigt, wird er sich auf die Suche nach einer für ihn geeigneten Beute machen. Auf seiner Beutesuche unterscheidet er nicht zwischen "Wild"- und "Nutz"-Tieren. Wenn Nutztiere leicht erreichbar sind, wird er immer wieder  auch auf sie zugreifen. Es liegt am Menschen, das zu erkennen, sich darauf einstellen und zu verhindern, dass Wölfe den leichtesten Weg des Beutemachens gehen. Dies ist eine der Voraussetzungen für eine akzeptable Koexistenz zwischen Mensch und Wolf unter den gegenwätigen Umständen; wenn man so will, eine der Konditionen eines hypothetischen franziskanischen "Vertrags" zwischen der Wolfspupulation und den Menschen eines Wolfsrückkehrgebietes. Eine weitere Kondition wäre, dass man dem Wolf seine wild lebenden Beutetiere in Wald und Flur lässt. Solche "Vertragselelemente" brächten für "beide Seiten" Nutzen und, wenn nicht "Frieden", so doch ein Miteinanderauskommen.

 

Wenn der Wolf wieder in bestimmten Gegenden Kataloniens heimisch und toleriert wird, wird damit anerkannt, dass er eine wichtige Rolle bei der Wiederherstellung von ursprünglichen Naturräumen spielen kann: er reguliert die Überzahl von Wildarten (z. B. Wildschweine), er beseitigt schwache und kranke Tiere und trägt so zur Vermeidung von Tierseuchen bei, auch unter Nutztieren. Im Falle der Wildschweine nützt er Landwirten auch, da die Tiere viel Schaden an Feldern, Weinbergen und Gärten anrichten.

Gibt man dem Wolf Raum und lässt ihm seine natürlichen Beutetiere, dann wird sich die Zahl der Angriffe auf domestizierte Tiere in Grenzen halten. Bemerkt er, dass durch Elektrozäune und geeignete Hunde geschützte Herden schwer erreichbar sind, wird er auch von ihnen ablassen – bis auf wenige Ausnahmen, wo dann eine „Entnahme“ angebracht sein kann. Doch selbst wenn ein "Problemwolf" genetisch identifiziert wird, ist es schwierig, ihn gezielt zu "entnehmen". Meist fallen den Aktionen auch andere Tiere eines Rudels zum Opfer.

Es gibt dazu Alternativen:  eine solche ist, "Problemwölfe" zu "vergrämen", d. h. durch abschreckende Maßnahmen so zu konditionieren, dass sie ihr (für Menschen) problematisches Verhalten aufgeben. Die letale "Entnahme" von einzelnen Tieren oder die Begrenzung der Wolfspopulation durch Tötungen hat meist nicht die Wirkung, die sich ihre Befürworter versprechen. An die Stelle getöteter Tiere rücken andere nach. Effektive Herdenschutzmaßnahmen sind wirkungsvoller.

Hier ist eine Rückbesinnung auf frühere Zeiten, in denen man mit dem Wolf lebte, und manche der früheren Abwehrmethoden durchaus nützlich. Übrigens haben einst katalanische Hirten auch den wehrhaften und großen katalanischen Esel zur Abwehr von Wölfen eingesetzt, indem sie ihn inmitten von  Schafen und Ziegen weiden ließen.

 

Zum Schluss ein Sprichwort aus der Vielzahl von sprichwörtlichen Redensarten im Spanischen und Katalanischen:

Cada boig amb el seu tema i cada llop per sa senda – Jedem Narren sein Thema und jedem Wolf seinen Weg.

 

Die südländische Toleranz und Gelassenheit, die aus diesem Refrane spricht, ist beachtlich, zumal es aus einer Zeit stammen dürfte, in der es noch mehr Wölfe in Katalonien gab als gegenwärtig.  Man wird heute Narren nicht mehr jedes Thema überlassen wollen und den Wölfen nicht jeden Weg ermöglichen. Aber mit Toleranz, Gelassenheit und der Bereitschaft, sich auf den Rückkehrer einzustellen, wird man ihn seine  Wege in Katalonien und anderswo gehen lassen können.

Ein Wolf blickt uns an - erinnert uns dieses Gesicht nicht auch an die zu unseren Freunden gewordenen Hunde? Es gibt wenig, wenn auch bezeichnende, Unterschiede in der DNA des Wolfes und der aller Hunde  (Quelle: wikimedia.org)
Ein Wolf blickt uns an - erinnert uns dieses Gesicht nicht auch an die zu unseren Freunden gewordenen Hunde? Es gibt wenig, wenn auch bezeichnende, Unterschiede in der DNA des Wolfes und der aller Hunde (Quelle: wikimedia.org)

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Kommentare: 2
  • #1

    Knut Popp (Montag, 19 Dezember 2022 20:12)

    Danke für diesen sehr aufschlussreich gestalteten Artikel.
    Genau so sollte es sein, mit den Wölfen und der Natur im Einklang leben.
    Gerade dies ist uns in der von Geld und Erfolg geprägten Zeit längst abhanden gekommen.
    Der drang des Menschen alles zu ordnen und regeln gepaart mit Gier und Egoismus hat uns dorthin gebracht wo wir heute stehen. Die Menschgemachte Biodiversitätskrise.
    Dabei ist Herdenschutz und Rücksicht auf unsere Lebensgrundlagen, kein Hexenwerk. Trophische Kaskaden müssen erhalten werden. Mehr Natur zuzulassen.

  • #2

    Tanja Kranitz (Dienstag, 20 Dezember 2022 18:08)

    Danke für diesen Artikel sehr interessant